Prof. Dr. Claudia Peus ist Professorin für Forschungs- und Wissenschaftsmanagement an der TU München sowie Vice Dean of Executive Education der TUM School of Management. Nach ihrer Promotion an der LMU München war sie als Visiting Scholar an der Sloan School of Management, Massachusetts Institute of Technology sowie als Post-Doctoral Fellow an der Harvard University tätig.
In ihrer Forschung beschäftigt sich Prof. Peus schwerpunktmäßig mit den Themen Führung und Innovation, Wissenschaftsmanagement sowie internationalem Personalmanagement und vermittelt ihre Kenntnisse kommerziellen sowie non-profit Organisationen aus dem In- und Ausland.
1. Welche Werte haben für Sie besondere Bedeutung und warum?
Integrität ist für mich sowohl persönlich als auch beruflich ein übergeordneter Wert. Mir ist es wichtig, dass Menschen zu ihrem Wort stehen und nicht versuchen, andere zu übervorteilen. Am Ende des Tages ist entscheidend, ob ich jemandem vertrauen kann.
Wir arbeiten derzeit intensiv mit einer Theorie, die auf Englisch „Moral Foundations“ heißt und davon ausgeht, dass es sechs Grunddimensionen moralischen Handelns gibt, die sich in unterschiedlichem Verhalten manifestieren und unter Umständen auch unterschiedliche Arten von Führung bedingen. Drei sind Individuums-zentriert, drei sind gruppenzentriert. Die Individuums-zentrierten Grunddimensionen sind „Care“, also Fürsorge für andere, Fairness, Freiheit. Die gruppenzentrierten Grunddimensionen sind Autorität, Loyalität und „Reinheit“, die im Englischen mit Purity oder Sanctity umschrieben wird. Wir verwenden diese Theorie in der Forschung, aber auch in der Lehre bei der Führungskräfteentwicklung.
Diese Modelle sind so hilfreich, weil man systematisch zeigen kann, wie sich Menschen unterscheiden. Bestes Beispiel hierfür ist die politische Situation in Amerika. Während die Republikaner vor allem für die gruppenzentrierten Werte stehen, fühlen sich die Demokraten vor allem den Individuums-zentrierten Werten Care oder Freiheit verpflichtet. Kulturunterschiede treten hier deutlich zu Tage.
2. Mit welchen Werten kann ein Unternehmen langfristig erfolgreich am Markt agieren? Bringt Wertschöpfung auch Wertschätzung?
Diesen Diskurs erlebe ich häufig. Der Wirtschaftswissenschaftler Milton Friedman hat gesagt: „The Business of Business is Business.“ Und immer wieder höre ich von Führungskräften, dass sich ein Unternehmen wertorientiertes Handeln in einer globalisierten Welt nicht leisten kann. Diese Aussagen haben wir mit mehreren Forschungsarbeiten hinterfragt. Die gute Nachricht ist: Es gibt langfristig durchaus einen Zusammenhang zwischen wertorientierter Führung und dem an harten Kennzahlen gemessenen Unternehmenserfolg. Zudem zahlen sich Motivation und Bindung der Mitarbeiter langfristig aus.
Der Markt hat sich gedreht. Die jungen Talente können sich immer mehr aussuchen, zu welchem Unternehmen sie gehen. Daher ist eine werteorientierte Führung auch wichtig, um junge Menschen für das Unternehmen zu gewinnen und zu halten. Gerade in der Knowledge Economy sind junge Talente ein wesentlicher Erfolgsfaktor.
3. Die Digitalisierung schreitet voran. Brauchen wir neue Werte in unserer neuen digitalen Welt, die gerade mit einer unglaublichen Schnelligkeit unser aller Leben verändert?
Die Digitalisierung führt dazu, dass Führungskräfte stärker durchleuchtet werden können, es gibt eine höhere Transparenz und es wird viel schneller kommuniziert. Quasi über Nacht kann es neue Wettbewerber geben. Was das für die Wertediskussion bedeutet, wollen wir in den kommenden Jahren klären. Erste Untersuchungen laufen bereits. Derzeit gehe ich davon aus, dass die Grundwerte die gleichen sind. Allerdings könnte durch die Kombination aus Globalisierung und Digitalisierung der Wertekonsens nicht mehr ganz so klar sein. Ein Chinese zeigt sich beispielsweise verwirrt, wenn westliche Führungskräfte Unternehmen als nicht ethisch kritisieren, die rein profitorientiert sind.
Durch die Digitalisierung wird die Herausforderung also noch größer, Werte zu leben und gleiche Werte zu finden. Langfristig müssen wir uns zudem überlegen, was die zentralen Werte sind, für die wir als Menschen stehen. So futuristisch das klingt, aber diese müssen wir in nicht allzu ferner Zukunft auch den Maschinen beibringen. Es gibt immer mehr Arbeiten, die darauf hindeuten, dass es nur noch eine Frage der Zeit ist, wann Maschinen ein Intelligenz-Niveau haben, das über unserem liegt. Und wir haben nur ein gewisses Zeitfenster, in dem wir den Maschinen unsere Werte einbauen können. Ansonsten haben wir vielleicht irgendwann Wesen geschaffen, die rein nutzenorientiert sind. Das ist per se wertfrei, zeigt aber auch, dass wir noch einen viel stärkeren Werte-Dialog brauchen.
Die Digitalisierung wird zudem viele Arbeitsplätze ersetzen. Wir müssen uns gut überlegen, was das für die Gesellschaft heißt. Wie wollen wir leben und arbeiten? Was sind die Bedingungen, unter denen Menschen glücklich leben können? Da kommen große Herausforderungen auf uns zu. Es ist Zeit, eine Debatte darüber zu führen, welche Werte wir in unserer Gesellschaft eigentlich leben wollen. Menschen brauchen einen Konsens über Werte und sie wollen die Werte gelebt sehen. Letztlich sind die großen politischen Krisen, wie etwa die Flüchtlingskrise oder die EU-Krise, vor allem Wertekrisen, oder anders ausgedrückt, ein Mangel an übereinstimmenden Werten.
4. Werteerziehung gehört zu den großen Herausforderungen unserer Zeit. Mit welchen Wertvorstellungen gehen junge Menschen heute ins Leben, und sind diese Wertvorstellungen zukunftsfähig?
Die Werteerziehung kommt nicht nur im Elternhaus, sondern auch an Schulen und Universitäten oft zu kurz. Wir versuchen, uns am Lehrstuhl dieses wichtigen Themas mit Seminaren anzunehmen, stehen aber auch noch am Anfang.
Vor allem die sogenannte Generation Y, also die ab 1980 Geborenen, bereitet uns Kopfzerbrechen. Diese jungen Menschen weisen viel höhere Narzissmuswerte auf, als die Generation davor, sind unsicher, erwarten zum einen mehr Führung, tun sich aber zugleich mit Kritik schwer und haben oft unrealistische Erwartungen. Das ist bereits in der Arbeitswelt zu spüren.
Doch welche Maßnahmen können hier weiterhelfen? Neuere Arbeiten gehen davon aus, dass der rein kognitive Ansatz, der sich am Verstand, also an Erlerntem und an Erfahrungen orientiert, nicht ausreicht. Daher wenden wir uns jetzt verstärkt der Intuition zu, die oft Grundlage menschlichen Verhaltens ist. Wir haben alle sehr schnell ein Gefühl dafür, was richtig oder falsch ist. Dann rechtfertigen wir diesen Eindruck durch Reflexion und Wissen.
Wir untersuchen das Thema gerade an einem auf dem „Spieltrieb“ basierenden Ansatz. Viele Menschen spielen heute lange und oft am Smartphone oder am Computer. Dieses Verhalten wollen wir nutzen. Der Studiengang Games Engineering entwickelt für uns gerade eine Smartphone App, die dem Nutzer erlaubt, in einer virtuellen Realität wertebasierte Führung zu üben. Der Ansatz besteht aus zwei Schritten. Der erste ist noch nicht digital. Wir haben ein Verfahren entwickelt, wie man Führungsverhalten besser messen kann. Hierfür haben wir Situationen ermittelt, die von Führungskräften als wichtig und erfolgskritisch bewertet wurden. Es gibt in jeder Situation acht Verhaltensalternativen. Die Frage ist, in welcher Situation ist welches Führungsverhalten besonders erfolgreich. Hierzu haben wir umfangreiche Daten gesammelt.
Um dieses Wissen zu nutzen, können in einem zweiten Schritt diese Situationen auch in einem virtuellen Raum „erlebt“ werden. Ich kann also verschiedene Verhaltensweise ausprobieren, ohne, dass mein Mitarbeiter durch eine nicht ideale Reaktion für immer verschreckt ist. Die Wirkung ist viel größer als beim reinen Rollenspiel. Die Technik bietet hier neue Möglichkeiten eine wertebasierte Unternehmensführung weiterzuentwickeln.
5. Korruption, Ränkeschmiede, Vetternwirtschaft: Ein Blick auf die globalisierte Welt stärkt nicht gerade das Vertrauen in funktionierende Wertesysteme. Wie können wir in unserer alles andere als perfekten Welt, Werte erfolgreich leben?
Im Moment muss man tief durchatmen, weil Verhalten, dass nicht den Grundwerten unserer westlichen Kultur entspricht, kurzfristig belohnt wird. Ich persönlich finde das sehr frustrierend. Gleichzeitig ist es wichtig, den Fokus nicht immer nur auf die schlechten Beispiele zu richten. Das ist auch ein guter Ansatz bei der Wertekommission. Es gibt so viele Menschen, die wertorientiert handeln und entscheidende Beiträge für die Gesellschaft leisten. An diesen Menschen sollten wir uns orientieren und Gleichgesinnte suchen, die sich gegenseitig in ihrem wertebasierten Handeln bestärken.
6. Welche Persönlichkeit des öffentlichen Lebens hat für Sie wirklich Vorbildfunktion und wenn ja, warum?
Ich habe viele Vorbilder, vor allem aus dem privaten und familiären Bereich. Einen möchte ich besonders hervorheben. Es handelt sich um einen Verkäufer des Obdachlosenmagazins in München. Jeden Tag steht er gut gelaunt und voller Optimismus an der U-Bahnhaltestelle. Er strahlt in die Welt und macht das Beste aus seiner Situation. Solche Menschen sind für mich immer wieder inspirierend. Es gibt auch Wirtschaftsvertreter, die extrem werteorientiert agieren, was sehr motivierend wirkt. Führungspersönlichkeiten, die persönlich bescheiden sind und sich für ihre Mitarbeiter einsetzen, halte ich für große Vorbilder. Das sind aber meistens nicht die Leute, die in den Schlagzeilen stehen.
Das Interview führte Christiane Harriehausen – Wirtschaftsjournalistin.