Prof. Jörg Rocholl, Ph.D., ist Präsident der ESMT Berlin. Er ist darüber hinaus stellvertretender Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats des Bundesfinanzministeriums sowie stellvertretender Vorsitzender des Vereins für Sozialpolitik.
Professor Rocholl hat an der Universität Witten/Herdecke Wirtschaftswissenschaften studiert und mit Auszeichnung abgeschlossen. Nach seiner Promotion an der Columbia University in New York wurde er zum Assistant Professor an die University of North Carolina in Chapel Hill berufen. Professor Rocholl forscht und lehrt seit 2007 an der ESMT und wurde 2011 zum Präsidenten der ESMT ernannt.
Professor Rocholls Forschungsinteressen liegen in den Bereichen Corporate Finance, Corporate Governance, Financial Intermediation, Zentralbanken und Finanzregulierung. Seine Forschung wurde in führenden wissenschaftlichen Fachmagazinen wie dem Journal of Finance, dem Journal of Financial Economics und Review of Financial Studies veröffentlicht.
Welche Werte haben für Sie besondere Bedeutung und warum?
Weltoffenheit ist für mich einer der wichtigsten Werte. Gerade in einer Zeit, in der wir zum einen die Globalisierung mit all ihren Folgen für die Staaten erleben und zum anderen manche Rückfälle in den Nationalismus erfahren müssen, ist eine weltoffene Haltung besonders wichtig.
Auch auf Verlässlichkeit, Aufrichtigkeit und Haltung lege ich großen Wert, weil sie das Leben einfacher und angenehmer gestalten. Wenn ich mich auf das Wort meines Gegenübers verlassen kann, brauche ich mir nicht immer wieder Gedanken darüber zu machen, ob das Vereinbarte auch eingehalten wird.
Diese Verhaltensweisen münden für mich schließlich in einem ganz zentralen Wert: Vertrauen. Wenn ich jemandem vertrauen kann, wird der Austausch und die Zusammenarbeit mit ihm angenehm, weil ich weiß, dass sein Wort gilt. Ohne Vertrauen ist das menschliche Miteinander sowohl in privater als auch in beruflicher Hinsicht nicht möglich.
Leider verstehen manche Menschen erst, wie wichtig Vertrauen ist, wenn sie es verspielt haben. Das Vertrauen eines Menschen zu gewinnen ist ein oft langwieriger Prozess, doch verlieren kann man das Vertrauen in den anderen sehr schnell.
Mit welchen Werten kann ein Unternehmen langfristig erfolgreich am Markt agieren? Bringt Wertschätzung auch Wertschöpfung?
Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass langfristiges Denken und Handeln am Ende nicht nur Wertschätzung, sondern auch Wertschöpfung bringt. Das hängt mit verschiedenen Faktoren zusammen. Ökonomisch betrachtet werden die sogenannten Transaktionskosten durch Wertschätzung geringer. Wenn ich zum Beispiel weiß, dass ich meinem Geschäftspartner vertrauen kann, muss ich mich nicht mehr in jeglicher Hinsicht absichern. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch die Tatsache, dass Geschäftsbeziehungen in der Regel nicht einmalig sind, was neudeutsch als „repeated game“ bezeichnet wird. Eine gewinnbringende Beziehung zwischen Geschäftspartnern funktioniert aber nur, wenn keiner der beiden opportunistisch handelt und eine einmalige Gelegenheit zu seinem Vorteil ausnutzt.
Die hohe Transparenz hat den Stellenwert der Reputation noch einmal erhöht. Ein guter Ruf war schon immer geschäftsfördernd, doch noch nie konnte man ihn so schnell verlieren wie heute, wo über Social Media Informationen in Sekundenschnelle bis in den hintersten Winkel der Welt gelangen. Ein schlechter Ruf macht heute schnell die Runde und das wirkt sich irgendwann auch auf die Geschäftszahlen aus.
Die Digitalisierung schreitet voran. Brauchen wir neue Werte in unserer neuen digitalen Welt, die gerade mit einer unglaublichen Schnelligkeit unser aller Leben verändert?
Die Digitalisierung hat unser Leben nicht nur transparenter und schneller gemacht, sondern auch zu einer wahren Informationsflut geführt, die für den einzelnen kaum noch zu bewältigen ist. Zudem ist es nur schwer einzuschätzen, ob das, was an Informationen aus dem Netz kommt, auch wirklich der Realität entspricht. Hier lauern Gefahren, die die Nutzer zu besonderer Vorsicht im Umgang mit der digitalen Welt zwingen.
Bei der Frage, ob wir neue Werte brauchen, fällt mir ein Spruch von Gustav Radbruch ein, einem der führenden Politiker der Weimarer Republik. Auf die Frage, ob Politik den Charakter verdirbt, hat er gesagt: „Politik verdirbt nicht den Charakter, sondern erprobt ihn.“ Übertragen auf die Digitalisierung, könnte man sich nun fragen: Verdirbt die Digitalisierung den Charakter? Ich denke, dass dies nicht der Fall ist, auch wenn es Menschen gibt, die die Anonymität des Netzes für Hetze und Verleumdung nutzen. Aber sicherlich erprobt die Digitalisierung den Charakter des Menschen, weil Respekt, Haltung und Würde im Internet keine Selbstgänger sind.
Es ist interessant, dass durch die Digitalisierung das „global village“ Wirklichkeit geworden ist. Zugleich findet aber eine Rückbesinnung auf das eigene Umfeld und persönliche Beziehungen statt. Schnell hatten die Menschen erkannt, dass eine Facebook-Freundschaft nicht automatisch eine enge persönliche Bindung widerspiegelt, was die Diskussion um den Wert persönlicher Kontakte befördert hat.
Große Veränderungen hat die Digitalisierung auch im Hinblick auf die Schnelligkeit im Berufsleben gebracht. Wir haben einen enormen Produktivitätszuwachs erfahren. Das merke ich zum Beispiel dann, wenn ich an wissenschaftlichen Arbeiten sitze und mit Kollegen an demselben Dokument arbeiten und Änderungen in Sekundenbruchteilen verschicken kann. Andererseits bewirken die Schnelligkeit und die Fülle an Informationen einen Mangel an „attention“. Der amerikanische Sozialwissenschaftler Herbert Simon hat das folgendermaßen zusammengefasst: „Der Reichtum an Informationen führt zu einer Armut an Aufmerksamkeit.“ Über viele Jahre war die Kernfrage: Wie komme ich an Informationen? Heute haben wir eine Vielzahl an Informationen und die Herausforderung ist, die Aufmerksamkeit auf das zu lenken, was für uns relevant ist und was nicht.
Werteerziehung gehört zu den großen Herausforderungen unserer Zeit. Mit welchen Wertvorstellungen gehen junge Menschen heute ins Leben und sind diese Wertvorstellungen zukunftsfähig?
Als Professor stehe ich täglich mit vielen jungen Menschen in Kontakt und beobachte, das die Fragen nach der Sinnhaftigkeit der Tätigkeit und der gesellschaftlichen Auswirkungen des eigenen Handelns für junge Menschen sehr wichtig sind. Auf der anderen Seite stehen Unternehmen dadurch vor der nur schwer zu bewältigenden Herausforderung, diese Themen in den Berufsalltag zu integrieren. Ein Unternehmen muss verschiedenen Interessengruppen gerecht werden, seien es die Mitarbeiter, die Kapitalmärkte oder auch gesellschaftliche Strömungen. Das ist im Alltag oft ein Balanceakt.
Die Finanzmarktkrise vor gut zehn Jahren hat in der Bankenlandschaft auch die Frage aufgeworfen, welche Werte im Studium vermittelt werden sollten und was bereits in der Ausbildung getan werden kann, um die damaligen Exzesse zu vermeiden. Diese Themen beschäftigen uns auch an der ESMT in Berlin. Der Gründungsdekan unserer Hochschule hat die Ausbildung und das Studium einmal mit einem Führerschein verglichen und dieses Bild überzeugt mich bis heute: Die Bildungsinstitution kann den Führerschein zwar ausstellen, aber Unfälle vermeiden kann sie nicht. Hier ist also Eigeninitiative gefragt. Erfreulich ist allerdings, dass die Diskussion um werteorientiertes Handeln an den Universitäten in den vergangenen Jahren an Bedeutung gewonnen hat. Sicherlich ist Werteerziehung keine alleinige Aufgabe der Universität, sie sollte im Idealfall bereits in Elternhaus und Schule erfolgt sein. Aber die Universität kann einen nicht unwesentlichen Beitrag bei der Werteerziehung junger Menschen leisten. Spannend ist dieses Thema vor allem dann, wenn junge Leute unterschiedlicher Nationalitäten aufeinandertreffen, wie wir immer wieder feststellen können. So unterscheidet sich zum Beispiel der westliche Wertekanon durch die Betonung der Individualität von dem in China, wo das Kollektiv viel stärker im Mittelpunkt steht. Das zeigt auch ein Blick auf das in Deutschland viel diskutierte „social scoring“ der chinesischen Regierung, das hierzulande auf deutlich größeren Widerstand stoßen würde als in China.
Vor diesem Hintergrund ist es auch wichtig, die Diskussion um sogenannte Mindeststandards weiterzuführen, die in einer globalisierten Welt Handlungsrichtlinien für den Umgang miteinander bieten. Wir brauchen Weltoffenheit und Toleranz, aber auch allgemeingültige Regeln, um zu einem sinnvollen Miteinander zu finden. Hier gilt für mich wieder: Längerfristige Vertrauensbildung sollte das Ziel sein, nicht transaktionaler Opportunismus.
Korruption, Ränkeschmiede, Vetternwirtschaft: ein Blick auf die globalisierte Welt stärkt nicht gerade das Vertrauen in funktionierende Wertesysteme. Wie können wir in unserer alles andere als perfekten Welt Werte erfolgreich leben?
Korruption und Vetternwirtschaft sind aus meiner Sicht noch immer viel zu weit verbreitet und stehen in manchen Ländern dem Fortschritt massiv im Weg. Gleichzeitig bin ich optimistisch, weil sich in den vergangenen Jahren auch einiges getan hat. So wird zum Beispiel jährlich der Korruptionsindex veröffentlicht, und die gesetzlichen Rahmenbedingungen sind besser geworden. Hilfreich ist auch die höhere Transparenz, die es den Handelnden deutlich schwerer macht, unlauteres Verhalten vor der Öffentlichkeit zu verbergen.
Menschen in verantwortungsvollen Positionen müssen sich gerade vor diesem Hintergrund noch mehr Gedanken darüber machen, was sie tun. Das hat auch das Strache-Video gezeigt, das die österreichische Regierung zu Fall gebracht hat. In gewisser Weise sind solche Vorkommnisse ja auch eine Warnung für andere. Fehlverhalten kommt heutzutage viel leichter ans Licht einer breiten Öffentlichkeit, als es noch vor ein paar Jahrzehnten der Fall war.
Dennoch bleibt Korruption ein signifikantes Problem, um das sich die Staaten kümmern müssen.
Welche Persönlichkeit des öffentlichen Lebens hat für Sie wirklich Vorbildfunktion und wenn ja, warum?
Ich finde es schwierig, hierauf zu antworten. Daher möchte ich hier lieber auf ein Buch verweisen, das mich besonders beeindruckt hat, weil der Autor aufzeigt, wie positiv sich die Welt in den vergangenen Jahren entwickelt hat. Solche Signale zu setzen, halte ich in unserer Gesellschaft für sehr wichtig. Der Titel des Buches lautet: „Factfullness“ von Hans Rosling. Und was mich als Wissenschaftler besonders freut: Alle Aussagen sind mit Fakten unterlegt. So geht es zum Beispiel um die Frage, wie viele Kinder bis zum ersten Lebensjahr schon eine Impfung bekommen haben. Oder wie einfach ist der Zugang zu Trinkwasser? Fast jeder dieser Indikatoren zeigt eine deutliche Verbesserung innerhalb der vergangenen Jahrzehnte. Das lässt mich hoffnungsvoll in die Zukunft blicken. Ich möchte gerade deshalb auf dieses Buch verweisen, weil es Mut macht und den Stimmen widerspricht, die von Verfall der Sitten und Untergang der Menschheit sprechen.
Auch wenn es bestimmt noch viele Aufgaben zu lösen gibt, haben die Menschen schon viel erreicht. Es ist wichtig, sich nicht von Pessimismus herunterziehen zu lassen, sondern auch einmal mit Freude auf das bereits Erreichte zu blicken und es als Ansporn für die Zukunft zu begreifen.
Dieses Interview führte die Journalistin Christiane Harriehausen.