Andrea Martin ist die Leiterin des IBM Watson IoT Center in München und damit verantwortlich für die inhaltliche Ausgestaltung sowie die Marktrelevanz des Centers. Zuvor war sie Chief Technology Officer (CTO) für IBM in Deutschland, Österreich und der Schweiz sowie Präsidentin der IBM Academy of Technology.
In ihrer Rolle nutzt Andrea Martin ihre Erfahrung und ihr globales Netzwerk aus über 25 Jahren internationalem Servicegeschäft. Dies liefert auch wichtigen Input für ihre Aufgabe als Sachverständige in der KI Enquête Kommission des Deutschen Bundestages, die am 27.09.2018 konstituiert wurde.
Andrea Martin begann ihre Karriere bei IBM im Jahr 1992 nach ihrem Studium der Wirtschaftsmathematik an der Universität Karlsruhe.
Welche Werte haben für Sie besondere Bedeutung und warum?
Seit einigen Jahren beschäftige ich mich sehr intensiv mit der Frage, was für mich als Person wertvoll ist und worauf es in meinem Leben ankommt. Dabei habe ich folgende Werte als besonders wichtig identifiziert: Integrität, Authentizität und Achtsamkeit. Integrität bedeutet für mich vor allem, das, was ich sage, auch umzusetzen. Authentisch bin ich dann, wenn ich mich im Hinblick auf meine Gefühle nicht verstelle. Menschen haben ein sehr gutes Gespür dafür, ob jemand wirklich „echt“ ist. Das gilt nicht nur für mich als Privatmensch, sondern auch als Führungsperson. Wenn ich einmal einen schlechten Tag habe, brauche ich das nicht unbedingt vor anderen zu verbergen, aber ich muss selbstverständlich nicht die Gründe dafür darlegen. In jedem Fall sollte Authentizität nicht so weit führen, dass ich ein Team oder Menschen in meinem Umfeld dadurch belaste. Es ist jedes Mal ein Balanceakt, wie weit ich hier gehe. Aber es erleichtert das Miteinander, wenn ich ehrlich zu mir und ehrlich zu anderen bin und nicht glaube, dass ich mich verstellen muss.
Ein weiterer sehr wichtiger Wert ist für mich die Achtsamkeit, die ich ganz eng verbunden sehe mit dem Wert „Gesundheit“. Vor einigen Jahren hatte ich gesundheitliche Probleme, deren Ursachen vielfältig waren. Mit Hilfe eines Coaches konnte ich diese benennen und entsprechend an einer Verbesserung der Situation arbeiten. Thema Nummer eins war dabei die Achtsamkeit mir selbst gegenüber. Ich lernte im wahrsten Sinne des Wortes besser auf mich zu achten, und mich nicht so leicht von äußeren Faktoren beeinflussen oder unter Druck setzen zu lassen.
Mit welchen Werten kann ein Unternehmen langfristig erfolgreich am Markt agieren? Bringt Wertschätzung auch Wertschöpfung?
Wertebasiertes Handeln ist aus meiner Sicht für Unternehmen sehr wichtig. Das beginnt damit, dass Unternehmenskultur nicht nur gepredigt wird. Mir ist es immer wichtig gewesen, für ein Unternehmen zu arbeiten, dass nicht nur schöne Leitideen formuliert, sondern diese auch lebt. Hier kommen wir wieder auf das Thema Integrität zurück.
In unserer globalisierten Welt halte ich zudem die Themen „Diversity“ und „Inklusion“ für ganz entscheidend. Ein Satz, der kürzlich bei einer Podiumsdiskussion fiel, bringt es gut auf den Punkt: „Diversity“ bedeutet, jemanden einzuladen, und „Inklusion“, ihn zum Tanz aufzufordern. Der Kunde kann sehr schnell am Service und den Produkten feststellen, wie ein Unternehmen aufgestellt ist und ob es diese Werte lebt. Weltoffenheit und Integration sind heutzutage unerlässlich für den Erfolg. Ein Unternehmen, das Impulse von außen zulässt und die Unterschiedlichkeit seiner Mitarbeiter als Gewinn ansieht, macht schon vieles richtig.
Wertschätzung gegenüber Kunden und Mitarbeitern zeigt sich für mich auch in dem Respekt, den ich jedem einzelnen entgegenbringe. Auf diesen wichtigen Punkt möchte ich hier zu sprechen kommen. Unter Respekt verstehe ich in diesem Zusammenhang auch, dass ich Verantwortung für das übernehme, was ich zugesagt habe.
Wertschätzung und Respekt beziehen sich für mich allerdings nicht nur auf das Unternehmen an sich, sondern schließen die Verantwortung für die Welt mit ein. Beispielsweise sind die Themen Umweltschutz und Nachhaltigkeit in aller Munde, aber wir werden die Klimaziele nur gemeinsam mit den Unternehmen erreichen können.
Viele Führungskräfte haben das erkannt und arbeiten mit ihren Unternehmen oft bereits seit Jahren an einer kontinuierlichen Neuorientierung. Hierzu zählt auch IBM, das Unternehmen, für das ich tätig bin. IBM befindet sich ständig in einem Transformationsprozess, der sicherlich nicht immer mit der gleichen Intensität erfolgt, aber kontinuierlich ist. Entwicklungen zu antizipieren und sich immer wieder neu aufzustellen, halte ich für ein wichtiges Erfolgsrezept, wenn Unternehmen langfristig am Markt erfolgreich sein wollen. Veränderungen verlangen den Menschen etwas ab, aber gerade die Offenheit für Neues ist für mich zugleich auch wieder ein wichtiger Wert. Wir leben in einer sich schnell verändernden Welt; diese Dynamik nicht als Problem, sondern als Chance zu begreifen, ist jetzt besonders wichtig.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Tatsache, dass Menschen etwas Sinnvolles tun wollen und mit ihrer Arbeit einen Beitrag zur Gesellschaft leisten möchten. Auch das hat etwas mit Wertschätzung zu tun und ist ein wichtiger Aspekt, der von Unternehmenslenkern nicht aus den Augen verloren werden sollte.
Die Digitalisierung schreitet voran. Brauchen wir neue Werte in unserer neuen digitalen Welt, die gerade mit einer unglaublichen Schnelligkeit unser aller Leben verändert?
Ich glaube nicht, dass wir neue Werte brauchen. Allerdings sollten wir uns überlegen, wie wir unsere vorhandenen Werte sinnvoll in der digitalen Welt umsetzen können. Wenn wir zum Beispiel Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität als Grundwerte anerkennen, müssen wir uns fragen, was diese einzelnen Werte in der heutigen Zeit bedeuten. Was bedeutet Freiheit in einer Welt, in der wir potenziell immer gläserner werden und Unternehmen immer mehr über uns wissen? Was heißt Gerechtigkeit, wenn ich gegebenenfalls nicht einmal weiß, was mit meinen Daten passiert? Hier gibt es sicherlich noch einigen Diskussions- und Handlungsbedarf.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, auf welche Werte wir uns in einer globalisierten, digitalen Welt einigen können. Nationen sind durch die Digitalisierung enger miteinander verbunden als jemals zuvor. Aber je nach Kulturkreis und Nation gibt es große Unterschiede bei der Gewichtung einzelner Werte. Hier brauchen wir für die Zukunft sicherlich noch einen intensiveren Austausch über gemeinsame Leitlinien. Ein gelungenes Beispiel für so ein weltgemeinschaftliches Vorgehen ist die Ächtung biologischer und chemischer Waffen. Auf einem vergleichbaren Wege könnte die Weltgemeinschaft weitergehen, indem sie versucht, sich auf allgemeingültige Regeln zu verständigen. Es wird, je nach Kulturkreis immer unterschiedliche gesellschaftliche Werte geben. Aber die Zusammenarbeit funktioniert leichter, wenn bestimmte Maxime einfach international anerkannt sind und gelebt werden.
Dennoch wird es in verschiedenen Ländern immer unterschiedliche Ansätze geben, wie digitale Veränderungsprozesse ablaufen und gestaltet werden können. Aus meiner Sicht ist das auch gut so.
Werteerziehung gehört zu den großen Herausforderungen unserer Zeit. Mit welchen Wertvorstellungen gehen junge Menschen heute ins Leben und sind diese Wertvorstellungen zukunftsfähig?
Die Frage ist doch, wer für die Wertevermittlung zuständig ist? Aus meiner Sicht sind das die Eltern, das Umfeld und die Schule. Es hat sich also im Grunde gar nicht so viel verändert. Leider beobachtet man in den vergangenen Jahren, dass versucht wird, Verantwortung für die Erziehung und Vermittlung von Werten hauptsächlich an die Schule abzuschieben. Das ist aus meiner Sicht nicht der richtige Weg. Selbstverständlich kann die Schule mithelfen, Kindern Werte wie Respekt und Achtung vor dem anderen zu vermitteln. Aber sie ist nur ein Baustein bei der Werteerziehung. Umfeld und Elternhaus sind hier mindestens genauso stark gefragt. Das sollten wir nicht aus den Augen verlieren.
Wichtig ist aus meiner Sicht auch, dass junge Menschen verantwortungsvoll an den Umgang mit Medien und an die digitale Welt herangeführt werden. Hier gibt es bereits viele gute Angebote. Allerdings zeigen Mobbing und Pöbeleien im Netz auch, dass noch einige Aufgaben auf uns warten. Das Thema ist sehr wichtig, denn Werte wie Höflichkeit, Toleranz, Anstand und Respekt gelten selbstverständlich nicht nur, wenn wir uns persönlich, sondern auch wenn wir uns digital begegnen.
Wir alle sind dabei gefordert, jungen Menschen das richtige Verhalten in der realen und der digitalen Welt vorzuleben.
Korruption, Ränkeschmiede, Vetternwirtschaft: ein Blick auf die globalisierte Welt stärkt nicht gerade das Vertrauen in funktionierende Wertesysteme. Wie können wir in unserer alles andere als perfekten Welt Werte erfolgreich leben?
Diese Frage ist sicherlich aus der Perspektive eines Landes formuliert, in dem diese Themen gesellschaftlich eher geächtet sind als in vielen anderen. Aber das Vorhandensein von Korruption und Vetternwirtschaft hat bei mir nicht das Vertrauen in funktionierende Wertesysteme erschüttert. Im Gegenteil, ich bin froh, dass wir in Deutschland ein funktionierendes Wertesystem haben und sehe seine Erfolge. Das lässt mich optimistisch in die Zukunft blicken.
Spannend wird es, wenn internationale Handelsbeziehungen diese unterschiedlichen Welten miteinander in Kontakt bringen. In meinem Unternehmen gibt es hierfür Richtlinien, an die sich jeder Mitarbeiter halten muss und die Korruption oder Vetternwirtschaft kategorisch ausschließen. Wer gegen diese Richtlinien verstößt, verliert im Zweifelsfall seinen Job. Zudem gibt es jährliche Schulungen zu diesem Thema, an denen jeder Mitarbeiter teilnehmen muss. Auch daran ist zu erkennen, wie wichtig diese Richtlinien für unser Unternehmen sind.
Welche Persönlichkeit des öffentlichen Lebens hat für Sie wirklich Vorbildfunktion und wenn ja, warum?
Ich neige nicht dazu, mir Vorbilder zu suchen. Daher ist es für mich schwierig, diese Frage zu beantworten. Die Welt ist nicht schwarz oder weiß. Es gibt bei jedem Menschen positive und negative Seiten. Niemand kann immer und in jedem Bereich vorbildhaft sein. Wenn ich an jemandem vorbildhafte Eigenschaften entdecke, bleibt doch immer die Gewissheit, dass ich letztlich ganz anders bin, und es auch Seiten an diesem Menschen geben kann, die ich nicht schätze. Deshalb habe ich keine Vorbilder.
Dieses Interview führte die Journalistin Christiane Harriehausen.