Interviews

Nicolai Müller ist Steuerberater, zertifizierter Mediator und geschäftsführender Gesellschafter bei der Dr. Müller, Hufschmidt Steuerberatungsgesellschaft mbH und der Clever Führen GmbH. Zudem ist er Mitherausgeber des Buches „WERTEorientierte Führung von Familienunternehmen“, Veranstalter der Durchblick Konferenz und Vorstand der „Du bist wertvoll“-Stiftung, die sich die Unterstützung von heranwachsende Persönlichkeiten und damit die Entdeckung und Entfaltung ihrer Potenziale zur Aufgabe gemacht hat.

Seinen Ansatz, gute Mitarbeiter an das Unternehmen zu binden, ihre Potentiale zu nutzen und ein angenehmes Arbeitsumfeld zu schaffen, in dem sich alle wohlfühlen, lebt Nicolai Müller im eigenen Familienunternehmen und entwickelt es stetig weiter. Das Credo des Niederrhein verbundenen Unternehmers: Man muss Menschen mögen.

Foto: Claudius Holzmann

 

Interview

Welche Werte haben für Sie besondere Bedeutung und warum?

Für mich sind die Werte Mut und Vertrauen am Wichtigsten. Wenn ich mir ansehe, dass heutzutage fast jede Entscheidung in den sozialen Medien kommentiert wird, braucht es Mut, um überhaupt noch Entscheidungen zu treffen und sich all den Meinungen, die über einen hereinprasseln können, auch zu stellen.

Dennoch: Mutige Entscheidungen zu fällen ist wichtig, um Zukunft zu gestalten. Leider geschieht dies noch immer viel zu wenig. Die Ursachen hierfür sind vielfältig. In vielen Konzernen und Unternehmen gibt es oft zahlreiche Restriktionen, die mutige Entscheidungen erschweren können. Zugleich hat sich hierzulande eine Kultur der Angst breit gemacht und es werden eher die Risiken als die Chancen gesehen. Vor allem in der Startup-Szene lässt sich das leider immer wieder beobachten.

Eng verbunden mit dem Wert Mut ist für mich Vertrauen. Das beginnt beim Vertrauen in sich selbst. Wer sich selbst vertraut, wird sich leichter tun, mutige Entscheidungen zu treffen.

Genauso wichtig ist das Vertrauen in Kollegen und Mitarbeiter. Wer als Führungskraft andere in die Verantwortung nimmt und ihnen Dinge zutraut, schafft Raum für Ideen und Identifikation. Menschen möchten sich einbringen und etwas bewegen. Natürlich kann mal etwas schief gehen, aber selbst Fehler bringen uns voran. Wenn wir eine Fehlerkultur fördern, die das Wachstumspotential von Misserfolgen anerkennt, schaffen wir eine gute Grundlage für ein mutiges und entscheidungsfreudiges Arbeitsumfeld, in dem Menschen Spaß an ihrer Arbeit haben und sich Dinge zutrauen.

Die Herausforderung für Führungskräfte besteht darin, diese Vertrauensbasis zu schaffen. Mitarbeitern mit Ruhe und Aufmerksamkeit zu begegnen, auch wenn man selbst unter Dauerbeschuss steht und viele Themen abhandeln muss, fällt oft schwer, ist aber von großer Bedeutung.

Für mich hat sich der Wahlspruch „Ehrlich währt am längsten“ als Leitgedanke herauskristallisiert. Ich gehe daher mit „offenem Visier“ durchs Leben und finde ein ehrliches Feedback sehr wichtig, auch und gerade, wenn es mich auf Probleme oder Missstände hinweist. Schlecht ist es, wenn Mitarbeiter sich aus vermeintlich taktischen Gründen zurückhalten, gewisse Dinge anzusprechen.

Und so bedeutet Vertrauen sowohl in beruflicher als auch in privater Hinsicht „Beziehungsarbeit“, und die kann mühsam sein.

Mit welchen Werten kann ein Unternehmen langfristig erfolgreich am Markt agieren? Bringt Wertschätzung auch Wertschöpfung?

Ich denke nicht, dass man ohne Werte langfristig erfolgreich wirtschaften kann. Dabei spielen Mut, Vertrauen, Offenheit, Respekt und Authentizität eine wichtige Rolle.
Ein wertschätzender und respektvoller Umgang ist die Basis eines guten Miteinanders, ganz gleich welche Persönlichkeitsstruktur ein Mensch aufweist. Heute wird Respekt oft ganz anders gelebt, weil Hierarchien an Bedeutung verlieren und sich alle Mitarbeiter viel mehr auf Augenhöhe begegnen, als dies früher der Fall war. Respekt bedeutet für mich, Menschen als Menschen wahrzunehmen und wirkliches Interesse an ihnen zu zeigen.

Die Mitarbeiter spüren, ob ihnen aus rein taktischen Gründen Aufmerksamkeit geschenkt wird, oder ob das Interesse an ihnen echt und aufrichtig empfunden ist. Daher ist das „Mindset“ einer Führungskraft so wichtig. Nicht von ungefähr lautet mein Wahlspruch: „Man muss Menschen mögen.“

Dabei geht es vor allem um die eigene Einstellung im Hinblick auf sich selbst und seine Umgebung. Es ist sehr wichtig, wie ich auf die Welt zugehe, ob ich eher pessimistisch oder optimistisch bin, ob ich mutig bin, neue Wege zu gehen, oder lieber den eingetretenen Pfaden folge. Noch wichtiger ist das im Umgang mit anderen: Wenn ich in einem Menschen die Eigenschaften sehen kann, die ihn auszeichnen und wertvoll machen, so ist das einfach gut für ihn und gut für das Unternehmen.

Allerdings gehört dazu die Fähigkeit, sein Ego auch einmal hintenanzustellen und sich als Führungskraft zurückzunehmen, um dem anderen Raum für seine Entfaltung zu lassen. Diese Erfahrung kann für beide Seiten sehr wohltuend sein, erfordert aber wieder Mut, Vertrauen und die Fähigkeit, sich nicht selbst immer in den Mittelpunkt zu stellen. Keine leichte Aufgabe!
Ich beobachte oft, dass Führungskräfte sich daher lieber auf das sichere Terrain der Zahlen, Daten und Fakten zurückziehen. Doch damit allein kann niemand erfolgreich wirtschaften. Wertschätzung ist daher eine elementare Stellschraube für die Wertschöpfung eines Unternehmens. Leider sieht die Realität oft anders aus. Viele arbeiten noch immer nach dem Motto „nicht getadelt ist Lob genug“, doch diese Einstellung führt zu unzufriedenen Mitarbeitern. Jeder Mensch braucht Lob und freut sich über ein „Danke“.

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist in diesem Zusammenhang das Thema Offenheit. Es ist gut, wenn Mitarbeiter ohne Angst auch kritische Punkte ansprechen können. Wahrheit kann zwar wehtun, aber es nützt nichts, wenn Dinge verschwiegen werden, weil Mitarbeiter Angst haben, über Probleme zu sprechen.

Das Ganze hat auch eine ökonomische Perspektive, denn bis zu einem Drittel der Personalkosten in Unternehmen sind Konfliktkosten.

Die Digitalisierung schreitet voran. Brauchen wir neue Werte in unserer neuen digitalen Welt, die gerade mit einer unglaublichen Schnelligkeit unser aller Leben verändert?

Ich bin versucht zu antworten, dass es ein Anfang wäre, erst einmal die alten Werte zu leben. Doch das ist zu kurz gegriffen. Was ich beobachte, ist, dass der Wunsch nach Orientierung und Struktur zugenommen hat. Viele Menschen laufen derzeit in die Überforderung, denn es gibt zu viele Informationen in zu kurzer Zeit.

Zugleich nimmt die Hemmschwelle ab. Die Anonymität des Internets ermöglicht einen respektlosen Umgang miteinander, der in dieser Form untragbar ist. Wir brauchen wieder eine vernünftige Diskussionskultur, die über das wenig zielführende Stammtischgeplänkel hinausgeht. Es gibt immer einen gewissen Prozentsatz an Menschen, denen man nichts recht machen kann, die aber außer Kritik und persönlichen Angriffen keine Lösung zu möglichen Problemen beitragen. Das hat enorme Auswirkungen auf die Bekleidung von ehrenamtlichen Positionen und öffentlichen Ämtern, so dass viele keine Lust haben, diese zusätzliche psychische Belastung zu tragen.

Jeder muss für sich überlegen, welche Informationen er konsumieren möchte. Ich selbst habe zum Beispiel ein sehr ambivalentes Verhältnis zu Nachrichten. Dort wird der Fokus zu oft auf die nächste dramatische Schlagzeile gerichtet. Da muss man am Ende ja glauben, dass die Welt schlecht und böse sei.

Auch die Schnelllebigkeit ist ein großes Problem, für unsere Kunden ebenso wie für unsere Mitarbeiter. Hier sind wir gefordert, eigene Regeln aufzustellen und innerhalb und außerhalb des Unternehmens zu vermitteln, dass es durchaus in Ordnung ist, wenn die Antwort auf eine Mail mehr als eine Minute dauert. Das hat nichts mit fehlender Dienstleistungsorientierung zu tun. Im Gegenteil: Bei dauernder Überforderung bricht sonst irgendwann das ganze System zusammen und damit ist niemandem geholfen, auch nicht dem Kunden. Allerdings ist die Angst mit Kunden über diese Themen zu sprechen und die notwendigen Konsequenzen zu ziehen, sehr hoch. Hier dominiert noch immer die Sorge, Kunden zu verlieren, wenn man eben vermeintlich zu langsam ist.

Werteerziehung gehört zu den großen Herausforderungen unserer Zeit. Mit welchen Wertvorstellungen gehen junge Menschen heute ins Leben und sind diese Wertvorstellungen zukunftsfähig?

Ich glaube nicht, dass sich die Wertvorstellungen wesentlich verändert haben. Was sich verändert hat, ist das Selbstbewusstsein, mit dem junge Menschen heute in die Welt gehen. Dies führt zu neuen Herausforderungen. Denn starke Persönlichkeiten brauchen auch starke Führungskräfte, die mit Widerworten umgehen können. Das führt gerade bei älteren Generationen zu Irritation. Hierarchien und Titel werden für jüngere Menschen immer unwichtiger. Es zählt mehr die Authentizität meines Gegenübers und weniger, was sie hat, sondern was sie als Persönlichkeit darstellt.
Vor diesem Hintergrund sollten wir uns immer bewusst sein, wie sehr wir als Führungskräfte auf dem Prüfstand stehen und wie genau unser Handeln oder Nichthandeln von den Mitarbeitern registriert wird. Das beginnt damit, wie ich jemanden begrüße, bis hin zu meiner Parkplatzwahl. Der Fisch stinkt ja bekanntlich vom Kopf. So ist die Vorbildfunktion von großer Bedeutung, wenn ich bei Menschen, ganz gleich welchen Alters, eine Verhaltensänderung bewirken möchte.

Daher stelle ich mir immer wieder die Frage: Was ist meine Rolle als Unternehmer? Natürlich ist in diesem Zusammenhang das operative Geschäft sehr wichtig, aber zugleich möchte ich den Menschen, mit denen ich zusammenarbeite auch etwas mitgeben, damit sie sich weiterentwickeln können. Für mich gilt: Je mehr ich vom Leben sehe, desto mehr kann ich aufnehmen und reflektieren, um mir dann letztlich meine eigene Meinung bilden zu können.

Das fängt im Grunde schon bei kleinen Kindern an. Sie dürfen sich in unserer Gesellschaft kaum noch ausprobieren. Vor diesem Hintergrund habe ich die „Du bist wertvoll – Stiftung“ ins Leben gerufen, die sich die Förderung von Kreativität bei Kindern und Jugendlichen zum Ziel gesetzt hat.

In Deutschland ist unser Bildungssystem auf Konformität und nicht auf Kreativität ausgerichtet und das, obwohl wir in Zukunft wahrscheinlich immer weniger Menschen mit einem solchen Profil in der Arbeitswelt benötigen werden. Hier muss dringend gegengesteuert werden, damit wir dem internationalen Vergleich Stand halten.

Korruption, Ränkeschmiede, Vetternwirtschaft: ein Blick auf die globalisierte Welt stärkt nicht gerade das Vertrauen in funktionierende Wertesysteme. Wie können wir in unserer alles andere als perfekten Welt, Werte erfolgreich leben?

Die angesprochenen Probleme sind keine neuen und begegnen uns in der Menschheitsgeschichte schon seit Tausenden von Jahren. Doch heute ist die Welt schneller und auch transparenter geworden. Daher bekommen wir viel mehr über die Missstände in der Welt mit und müssen noch stärker darauf achten, worauf wir unseren Fokus richten.
Es gibt sehr viele Menschen, die sich richtig verhalten, nur finden die „good news“ in der Regel deutlich weniger Aufmerksamkeit als die „bad news“.

Jeder entscheidet für sich, ob er Korruption akzeptiert. Hier sind wir wieder bei meinem Kern-Wert „Mut“. Die Fragen, wie will ich wirtschaften und wie will ich mich in der Berufswelt positionieren, kann nur jeder für sich beantworten und muss dann eben mit den Konsequenzen leben.

Es gibt zu diesem Thema ein wunderbares Zitat aus dem Banken-Krimi „The International“ aus dem Jahr 2009: „Wir haben keine Kontrolle über das, was das Leben mit uns macht. Die Dinge geschehen, ehe man um sie weiß und wenn sie geschehen sind, zwingen sie einen, andere Dinge zu tun, bis man am Ende jemand geworden ist, der man nie sein wollte.“ Besser kann man das Dilemma rund um die Wirkung äußerer Einflüsse auf die eigene Persönlichkeit kaum beschreiben.

Welche Persönlichkeit des öffentlichen Lebens, hat für Sie wirklich Vorbildfunktion und wenn ja, warum?

Für mich sind Menschen, die Ehrenämter übernehmen, Persönlichkeiten mit Vorbildfunktion. Wenn man sich beispielsweise die freiwillige Feuerwehr anschaut, ist es bewundernswert, mit welchem Einsatz hier Menschen ihre Freizeit investieren, um anderen zu helfen. Davor habe ich tiefen Respekt.

Dieses Interview führte die Journalistin Christiane Harriehausen.