Alexander Birken, Jahrgang 1964 und geboren in Hamburg, hat am 1. Januar 2017 den Vorstandsvorsitz der Otto Group übernommen.
Zuvor war er als Konzern-Vorstand für die strategische Weiterentwicklung verschiedener Firmen verantwortlich. Er zeichnete u. a. für die Baur Gruppe, die Schwab Gruppe, die Witt Gruppe sowie die Otto Group Russia verantwortlich. Seit dem 1. August 2012 nahm er zusätzlich die Sprecherfunktion der Einzelgesellschaft OTTO wahr.
Nach dem Betriebswirtschaftsstudium an der Wirtschaftsakademie Hamburg nahm Birken seine erste berufliche Tätigkeit bei Philips Medical Systems auf.
1991 stieg Birken im Controlling-Bereich der Otto Group ein und übernahm in der Zeit von 1998 bis 1999 die Verantwortung für das Beteiligungscontrolling der Otto Group im amerikanischen und asiatischen Markt. 1999 bis 2002 leitete Birken das weltweite Beteiligungscontrolling der Otto Group.
2002 bis 2004 war er als Chief Operating Officer der Spiegel Group in Chicago, USA, tätig. Seit 2005 war Birken Mitglied des Vorstandes der Otto Group und maßgeblich für die erfolgreiche Expansion der Otto Group Russia verantwortlich. Zudem verantwortete er operativ die Bereiche Personal, Steuerung und IT von OTTO, die 2012 an den OTTO-Bereichsvorstand übergegangen waren.
Alexander Birken ist verheiratet und Vater von vier Kindern.
Welche Werte haben für Sie besondere Bedeutung und warum?
Das ist keine leichte Frage. Wenn ich meinen Wertekanon auf einen Nenner bringen soll, dann ist es wohl die Wahrhaftigkeit, die mich am meisten leitet. Ich bin christlich geprägt und habe sehr viel evangelische Jugendarbeit gemacht. Das christliche Verständnis, das Beste aus sich selbst zu machen und diese Freiheit stets auf andere Menschen zu beziehen, hat mich sehr geprägt. Wahrhaftigkeit bedeutet für mich, meine Werte mit meinem Denken, Sprechen und Handeln in einen größtmöglichen Einklang zu bringen. Das bedeutet Wahrhaftigkeit für mich, und ich glaube zutiefst, dass diese Wahrhaftigkeit von anderen Menschen als Integrität wahrgenommen wird, die es mir und anderen ermöglicht, vertrauensvoll miteinander umzugehen. Vertrauen ist die bedeutendste Währung und davon brauchen wir in einer Zeit großer Veränderung und erheblichen gegenseitigen Misstrauens dringend mehr.
Mit welchen Werten kann ein Unternehmen langfristig erfolgreich am Markt agieren? Bringt Wertschätzung auch Wertschöpfung?
Als ich vor einigen Jahrzehnten bei der Otto Group begonnen habe, war mein Arbeitsvertrag, auf den ich so stolz war, aus nachhaltigem, ziemlich dickem, grauen, um nicht zu sagen: hässlichem Papier. An meinem ersten Arbeitstag wurde mir erklärt, wie ich meinen Müll bitte sorgsam zu trennen habe. Ich habe erst nach und nach verstanden, worum es dem Unternehmer Michael Otto und dem Unternehmen ging: Achtsam mit den Ressourcen der Welt umzugehen und im Kleinen wie im Großen einen Beitrag dazu zu leisten, Fauna und Flora zu schützen. Das war damals ungewöhnlich, ja revolutionär.
Heute spricht jeder von Nachhaltigkeit oder dem englischen Buzzword Corporate Responsibility. Aber es geht heute wie damals um die Frage, mit welcher Haltung man ein Unternehmen führt. Ich bin von dem fasziniert, was die Gründerväter der damaligen Bundesrepublik ersonnen haben, nämlich die Soziale Marktwirtschaft. Sie bringt die beiden Werte, die unternehmerisches Handeln prägen können und sollten, in Einklang: Freiheit und Verantwortung. Zum einen also das, was Wirtschaft ausmachen sollte, nämlich die Freiheit, mit Innovationsfreude, Kreativität und betriebswirtschaftlichem Kalkül Waren und Dienstleistungen an Kund*innen zu bringen. Und andererseits dies stets mit dem Blick auf den Menschen – ob Kund*in, Kolleg*in oder Geschäftspartner*in – zu gestalten und dabei die großen Herausforderungen der Menschheit wie die Globalisierung, die Digitalisierung und den Klimawandel stets in den Blick zu nehmen. Das ist die Herausforderung, weshalb ich heute von einer Ökosozialen Marktwirtschaft sprechen würde.
Für uns als Unternehmer bedeutet das, für die Freiheit unternehmerischen Handelns ebenso zu kämpfen wie für verantwortungsvolles Handeln. Sich als Teil der Gesellschaft und damit auch als Teil des Problems und der Lösung der großen Fragen dieser Zeit zu verstehen, wird von der Gesellschaft zunehmend gefordert. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass verantwortliches Handeln einer Branche oder eines Unternehmens auf kurz oder lang zur Licence to operate wird. Wir erleben das bereits bei jungen Kolleg*innen, die darauf bestehen, die Sinnhaftigkeit ihres Tuns mit den Werten zu verbinden, die im Unternehmen propagiert und vor allem sichtbar gelebt werden. Wertschätzung für die gesellschaftlichen Herausforderungen definieren in Zukunft den inneren Wert von Unternehmen, Waren und Dienstleistungen und werden zum Wettbewerbsvorteil gegenüber Unternehmen, die ausschließlich am Shareholder-Value orientiert sind. Aus meiner Sicht ergeben sich insbesondere für Unternehmen mit einem europäischen Wertekanon weltweit ganz hervorragende Chancen.
Die Digitalisierung schreitet voran. Brauchen wir neue Werte in unserer neuen digitalen Welt, die gerade mit einer unglaublichen Schnelligkeit unser aller Leben verändert?
Das ist eine sehr spannende Frage, die ich in den letzten Monaten in einem Kreis von Kolleg*innen sehr unterschiedlicher Richtung sehr ernsthaft diskutiert haben. Als eine Unternehmensgruppe, die von der Digitalisierung der Konsument*innen, der Geschäftsmodelle und der Wettbewerbsarena hautnah betroffen ist, spüren wir die Notwendigkeit, unsere bisherige Art von Führung, Organisation und Prozessen grundlegend zu hinterfragen. Das ist der Grund, warum wir uns in den letzten vier Jahren im Zuge eines umfassenden Wandlungsprozesses stark verändert haben. Der Wandel der Kultur unseres Miteinanders war uns dabei wichtiger als vordergründige Restrukturierungen. Gelernt haben wir, dass sich die Haltung insbesondere von Führungskräften erheblich verändern muss, damit partizipative, kollaborative und agile Prozesse entstehen können.
Ebenso spannend ist aber die Erfahrung, dass wir Werte nicht an der Garderobe der Digitalisierung abzugeben brauchen. Auch benötigen wir keine neuen Werte, stattdessen eher ein Revival alter Werte: Achtsamkeit, Authentizität und ein neues Verständnis von Vielfalt, dass Unterschiede zwischen den Menschen nicht nur akzeptiert, sondern als Chance wahrnimmt – um nur diese drei zu nennen.
Dabei werden die Themen verantwortlichen Handelns im Zeitalter der Digitalisierung breiter. Viele Menschen sorgen sich, ob sie die damit einhergehenden Veränderungen bewältigen können. Der Umgang mit Daten und die Auseinandersetzung mit der Zukunft von Arbeit sind die beiden Themenräume, in denen laut Expertenmeinung Lösungen von uns als Otto Group erwartet werden. Aus diesem Grund haben wir zu diesen Themen einen Dialog mit Stakeholdern begonnen, um Wertbeiträge zu leisten. Wenn wir der zunehmend zu beobachtenden Vertrauenskrise in der Gesellschaft begegnen und weiterhin werteorientiert leben und arbeiten wollen, braucht es einen gesamtgesellschaftlichen Wandel, bei dem wir alle am Prozess Beteiligten mitnehmen müssen.
Werteerziehung gehört zu den großen Herausforderungen unserer Zeit. Mit welchen Wertvorstellungen gehen junge Menschen heute ins Leben und sind diese Wertvorstellungen zukunftsfähig?
Ich glaube nicht, dass die Werte der jungen Generation sich fundamental von denen der älteren Generation unterscheiden. Sie werden nur anders gelebt. Das beobachte ich nicht zuletzt bei meinen eigenen Kindern. Ich erlebe die junge Generation heute sehr motiviert und engagiert. Einerseits rückt die Entfaltung des eigenen Individuums stärker in den Fokus und damit auch die sinnhafte persönlichen Entwicklung. Andererseits herrscht ein viel größerer Gemeinsinn, als ich dies bei älteren Generationen beobachte. Beides zusammen finde ich sehr erfreulich und ja, es ist natürlich zukunftsfähig. Das hat auch Auswirkungen auf unser gesellschaftliches Miteinander, auf die Zukunft unserer Arbeit und auf unsere Unternehmenskultur. Wir alle müssen uns bewegen. Der Umgang miteinander, das Zusammenleben der Menschen und der Umgang mit anderen Kulturen müssen sich definitiv verändern. Wir müssen offener und mutiger werden, wir müssen lernen, loszulassen, toleranter zu werden und mehr Freiräume zu schaffen, wenn wir unsere gesellschaftlichen Probleme langfristig lösen und den digitalen Wandel meistern wollen. Nach wie vor suchen gerade junge Menschen nach Vorbildern. Zwar wissen sie heute mehr als so mancher erfahrene Manager, aber das Erfahrungswissen ist immer noch ein hohes Gut, das auch ebenso hochgeschätzt wird. Wichtig ist bei allem, dass wir die vor uns liegenden Veränderungen generationenübergreifend und gemeinsam gestalten.
Korruption, Ränkeschmiede, Vetternwirtschaft: ein Blick auf die globalisierte Welt stärkt nicht gerade das Vertrauen in funktionierende Wertesysteme. Wie können wir in unserer alles andere als perfekten Welt, Werte erfolgreich leben?
Offenkundiges Fehlverhalten der Wirtschaftseliten hat es zu jeder Zeit gegeben. Ich glaube, dass dies angesichts der hohen Transparenz, die wir in allen Gesellschaften mit dem Internet haben, nicht mehr akzeptiert und zu Recht skandalisiert wird. Umso größer ist die Herausforderung für Unternehmer und Unternehmen, Vertrauen zurück zu gewinnen. Das geht nicht mit starken Sprüchen und bunten Kampagnen, sondern mit harter Kärrnerarbeit im Maschinenraum des eigenen Unternehmens, mit einer sehr ehrlichen und transparenten Kommunikation und der gelebten Haltung, weit über den Tellerrand der eigenen Filterblase hinaus, Lösungen anzubieten und anzustreben. Dazu braucht es eine klare Haltung, Mut und die Bereitschaft zur tatsächlichen Veränderung.
Dabei müssen wir das Gemeinwohl stets im Blick behalten. Gelingt uns dies und schaffen wir es, in gemeinsamer Anstrengung wieder als verantwortungsbewusst wahrgenommen zu werden, so werden Unternehmen verloren gegangenes Vertrauen in sich und in das Wertesystem zurückgewinnen.
Welche Persönlichkeit des öffentlichen Lebens hat für Sie wirklich Vorbildfunktion und wenn ja, warum?
Für mich gibt es nicht die eine Persönlichkeit. Im Umfeld der Otto Group erlebe ich durchaus einige wahrhaftige Menschen mit einer vorbildlichen Haltung. Persönlichkeiten, die die Vision von einem sogenannten „Responsible Commerce“, einem verantwortungsbewussten Handel, verfolgen und daraus täglich neue Energie für die Herausforderungen einer nachhaltigen Wirtschaftstätigkeit schöpfen.
Im politischen Bereich freue ich mich über diejenigen Persönlichkeiten, die tatsächlich Fragen stellen und nicht nur ihre Statements vorbringen. Am ausgeprägtesten erlebe ich das tatsächlich bei unserem Bundespräsidenten Frank Walter Steinmeier.
Dieses Interview führte die Journalistin Christiane Harriehausen.