Andrea Rexer (geb. 1981) ist freie Journalistin. Von November 2018 bis Dezember 2019 war sie Ressortleiterin Unternehmen und Märkte beim Handelsblatt in Düsseldorf. Zuvor war sie Redaktionsleiterin des SZ-Frauenwirtschaftsmagazins PLAN W und leitete die Finanzberichterstattung der Süddeutschen Zeitung. Von 2011 bis 2014 berichtete sie zunächst für die Welt/Welt am Sonntag aus Frankfurt am Main über Banken, Regulierung und Finanzmärkte, ab 2012 leitete sie das Frankfurter Büro der Süddeutschen Zeitung. Sie begann ihre Karriere beim österreichischen Nachrichtenmagazin „profil“ in Wien, wo sie vor allem über internationale Ökonomie, Luftfahrt und Energie schrieb.
2014 wurde sie mit dem Ludwig-Erhard-Preis für Wirtschaftspublizisten ausgezeichnet. Im Sommer 2014 arbeitete sie im Rahmen des Arthur F. Burns Stipendiums drei Monate im kanadischen Vancouver beim Online-Magazin „The Tyee“.
Welche Werte haben für Sie besondere Bedeutung und warum?
Weltoffenheit und die Wertschätzung von Andersartigkeit sind für mich von zentraler Bedeutung. Denn wir leben in einer Zeit, die von gesellschaftlicher Polarisierung geprägt wird. Gegen Aggressivität, Hetze und Populismus offen aufzutreten, erfordert Mut. Und Mut ist neben Weltoffenheit und Toleranz der dritte Wert, der mir besonders wichtig ist. Zugleich sind es diese drei Werte, die auch für Führungskräfte enorm wichtig sind: Wer weltoffen und neugierig ist, hat gute Chancen innovativ zu sein. Und nur wer mutig ist, traut sich, neue Wege einzuschlagen.
Mit welchen Werten kann ein Unternehmen langfristig erfolgreich am Markt agieren? Bringt Wertschätzung auch Wertschöpfung?
Hinter einem erfolgreichen Unternehmen steckt eine Vielzahl von Werten. Die meisten Unternehmen haben ihre Werte irgendwo in Hochglanzbroschüren schriftlich festgehalten. Die Frage ist nur: werden sie auch gelebt? Als Journalistin habe ich Einblick in viele verschiedene Unternehmen gewonnen. Und ich beobachte teils eklatante Widersprüche. Nicht selten werden die Werte aus der Hochglanz-Broschüre mit den Füßen getreten, wenn es hart auf hart kommt. Wie steht es wirklich um die Transparenz und Ehrlichkeit gegenüber den Mitarbeitern, wenn die zum Beispiel die Auftragslage schlechter wird? Lässt der Chef oder die Chefin den Druck, den er oder sie spürt, an den Mitarbeitern aus? Wie ehrlich und wertschätzend ist der Umgang mit Mitarbeitern, die dem Chef nicht sympathisch sind?
Ich glaube, dass es den Führungskräften manchmal gar nicht auffällt, wenn sie Werte verletzen. Denn dazu bräuchten sie die Fähigkeit, sich selbst permanent zu hinterfragen – und das tun leider nicht alle. Chefs werden ja gern von den Mitarbeitern umschmeichelt, es ist bequem, sich mit Ja-Sagern zu umgeben.
Was können Führungskräfte tun, um sich ein ehrliches Feedback einzuholen? Ein Vorschlag: Jeder Chef und jede Chefin braucht einen Hofnarr, also eine Person, oder vielleicht sogar zwei, drei, die explizit dazu aufgefordert sind, offenes und ehrliches Feedback zu geben. Die Hofnarren sollten früher ja nicht (nur) den Hofherrn unterhalten, sondern durften ihm – dank der Narrenfreiheit – ungestraft den Spiegel vorhalten. Eine solche Offenheit kann natürlich weh tun. Aber wenn sich eine Führungskraft darauf einlässt, hat sie einen unschätzbaren Vorteil: er oder sie sieht, wo sich die Steine auf dem Weg befinden, statt das Unternehmen durch einen rosaroten Nebel zu steuern. Und diese Unternehmen haben eine größere Erfolgschance.
Die Digitalisierung schreitet voran. Brauchen wir neue Werte in unserer neuen digitalen Welt, die gerade mit einer unglaublichen Schnelligkeit unser aller Leben verändert?
Nein, aber manche Werte werden in dieser Zeit wichtiger als andere: Mut, Kreativität und Chancengleichheit gehören etwa dazu. Mut, auch mal neue Wege zu beschreiten. Kreativität, um eigene Lösungen zu finden. Und Fehlertoleranz ist dafür die Vorbedingung – denn nur, wenn die Mitarbeiter wissen, dass sie Fehler machen dürfen, werden sie neue Dinge ausprobieren.
Hervorheben möchte ich noch einen Wert: Chancengleichheit. Die meisten Menschen würden wohl unterschreiben, dass alle Menschen gleiche Chancen haben sollten. Dass sie das nicht haben, ist offensichtlich. Aber wir sollten uns bemühen, Menschen nicht aufgrund ihrer Herkunft oder ihres Geschlechts oder der Tatsache, dass sie introvertiert sind, zu diskriminieren. Wenn sich ein Unternehmen diesem Wert verschreibt, wird es auch wirtschaftliche Vorteile haben: Denn heute ist es viel wichtiger als früher, das Potenzial der gesamten Belegschaft zu heben. Früher reichte es vielleicht, einen genialen Erfinder zu haben. Heute verändert sich der Markt so rasant, dass es mehrere Augen braucht, um zu verstehen, woher die nächsten Veränderungen und Geschäftschancen kommen. Deswegen ist Diversity (oder Vielfalt) so wichtig. Ein homogenes Team, sagen wir mal zur Abwechslung, ein Team bestehend aus jungen weißen Frauen, wird weniger Impulse geben als ein gemischtes Team. Nur einem Irrglauben darf man nicht aufsitzen: es wird dadurch nicht gemütlicher. Durch Vielfalt entstehen Diskussionen und Missverständnisse. Die muss man aushalten können. Aber es lohnt sich.
Werteerziehung gehört zu den großen Herausforderungen unserer Zeit. Mit welchen Wertvorstellungen gehen junge Menschen heute ins Leben, und sind die Wertvorstellungen zukunftsfähig?
Werte sind keine Altersfrage. Die Frage klingt ein wenig so, als wäre die Jugend weniger an Werten interessiert als die Älteren. Das wäre falsch. Sind es derzeit nicht sogar die jungen Leute, die die Älteren an ihre Werte erinnern? Beim Brexit zeigen sich die jungen Briten deutlich weltoffener als die alten. Die Fridays-for-Future-Bewegung kämpft friedlich für Klimaschutz. Und wenn junge Leute als weniger leistungsbereit dargestellt werden, weil sie neben der Arbeit ein Privatleben einfordern, so ist das womöglich gar nicht ihrer vermeintlichen Faulheit geschuldet. Es könnte auch ihren Werten geschuldet sein – etwa dem Wert der Familie. Viele junge Männer beispielsweise schätzen den Wert der Familie viel höher, als es ihre Väter getan haben – und beanspruchen Elternzeit. Manche tun dies auch über die üblichen zwei Monate hinaus, egal, ob das ihrer Karriere schadet, oder nicht.
Korruption, Ränkeschmiede, Vetternwirtschaft: Ein Blick auf die globalisierte Welt stärkt nicht gerade das Vertrauen in funktionierende Wertesysteme. Wie können wir in unserer alles andere als perfekten Welt Werte erfolgreich leben?
Ich glaube nicht, dass die Welt schlechter geworden ist. In vielen Kriterien ist sie sogar besser geworden: Denken Sie an die gesunkene Kindersterblichkeit, die steigende Lebenserwartung, die Reduzierung der extremen Armut. Manches ist auch schwieriger geworden, etwa der Anstieg des Populismus, wie schon eingangs erwähnt. Daher gilt es wie eh und je für seine Werte gerade zu stehen.
Welche Persönlichkeit des öffentlichen Lebens hat für sie wirklich Vorbildfunktion und wenn ja warum?
Manche Menschen sagen, sie hätten keine Vorbilder. Ich glaube, dass jeder Vorbilder hat. Oft passiert das unterbewusst. Vorbilder sind Menschen, die uns beeinflusst und inspiriert haben – selten umfassend, meistens aber in einer bestimmten Rolle. Deswegen mag ich das englische Wort „role Model“ lieber. Denn in diesem Begriff wird klar, dass es immer um einen Ausschnitt der Person geht, denn jeder hat im Leben viele Rollen. Wenn ich also rückblickend darüber nachdenke, wer mich beruflich inspiriert hat, dann war das die Lokalredakteurin Sabine Zehringer, bei der ich mit 15 Jahren mein erstes Praktikum gemacht habe. Sie ist heute Chefredakteurin der Lokalzeitung. Sie hat mir nicht nur beigebracht, wie man einfache Meldungen, erste Reportagen oder Berichte aus dem Gemeinderat schreibt, sondern sie hat mir auch vermittelt, dass man den Journalistenausweis niemals benutzt, um sich gratis ins Museum oder Kino hineinzuschleichen, wenn man eigentlich privat hingeht. Dass man sich durch die dienstliche Position nicht korrumpieren lassen sollte, lässt sich natürlich auf sämtliche Berufsbilder übertragen.
Dieses Interview führte die Journalistin Christiane Harriehausen.