Interviews

Dr. phil. Abtprimas Emeritus Notker Wolf OSB, geb. 1940 in Bad Grönenbach/Allgäu, trat 1961 in die Benediktiner-Erzabtei St. Ottilien ein. Er studierte Philosophie an der Päpstl. Hochschule S. Anselmo in Rom, Theologie und Naturwissenschaften an der LMU München, wurde 1968 zum Priester geweiht und 1971 als Dozent für Naturphilosophie und Wissenschaftstheorie an die Benediktinerhochschule S. Anselmo nach Rom berufen. 1977-2000 Erzabt von St. Ottilien und Abtpräses der weltweiten Ottilianer Benediktinerkongregation. Von 2000-2016 Abtprimas des Benediktinerordens in Rom, jetzt wieder in St. Ottilien. Daneben ist er Autor mehrerer Bestsellerbücher. Seine Hobbys sind Querflöte, E-Gitarre und Sprachen.

Interview

Welche Werte haben für Sie besondere Bedeutung und warum?
Wenn ich über Werte spreche, steht für mich die Ehrlichkeit an oberster Stelle. Dieser Wert findet sich übrigens auch in den zehn Geboten, die alles beinhalten, was für den Zusammenhalt einer Gesellschaft notwendig ist. Die Gebote sind grundmenschliche Einsichten, die der jungen israelitischen Gesellschaft zum Halt und für ihre Orientierung gegeben wurden. Wir brauchen diesen Halt heute genauso. Nicht lügen, nicht stehlen, nicht neidisch sein, all das trägt zum Funktionieren einer Gesellschaft bei.
Ein hoher Wert ist zudem die Einfachheit. Darunter verstehe ich auch kurze Dienstwege oder den Einsatz des Kopfes, bevor ich zu komplizierten computerunterstützen Maßnahmen greife, um simple Rechenaufgaben zu erledigen oder meinen Terminkalender zu verwalten.

Sehr wichtig ist die Nachhaltigkeit, denn bei unserem Handeln sollten wir immer die Konsequenzen im Auge behalten. Nachhaltigkeit und Eigenverantwortung gehen für mich dabei Hand in Hand. Viel zu oft verstecken wir uns hinter Regeln und Gesetzen, anstatt zu überlegen, was wir verantworten können und welche Risiken wir zu tragen bereit sind.
Und letzten Endes muss unser Denken und Handeln vor allem menschlich bleiben. Die direkte Kommunikation von Mensch zu Mensch ist aus meiner Sicht noch immer der beste Weg, um miteinander in Kontakt zu treten und zu bleiben. Ich habe Menschen kennengelernt, die unendlich viele E-mails geschrieben haben. In der Regel waren das die Rechthaber, die sich im Nachhinein auf diese Mails beziehen möchten und dafür auch gerne ihren Rechtsanwalt ins Spiel bringen.

Das leitet über zu einem weiteren wichtigen Wert: Dem Vertrauen. Wir leben in einer Welt, in der wir mit dem Verlust des Vertrauens in Gott auch das Vertrauen in den Menschen verloren haben. Das ist ein Grundübel unserer Gesellschaft. Wir schieben alle Verantwortung ab und berufen uns nur noch auf Gesetze und Verträge. Das zeigt sich auch daran, dass der traditionelle Handschlag des Ehrbaren Kaufmanns, bei dem zwei Menschen für etwas geradestehen, inzwischen aus der Mode gekommen ist. Leider, denn so sollten Geschäfte gemacht werden.

Mit welchen Werten kann ein Unternehmen langfristig erfolgreich am Markt agieren? Bringt Wertschätzung auch Wertschöpfung?
Achtung und Respekt vor dem anderen halte ich für sehr wichtig. Der heilige Benedikt sagte bereits im 6. Jahrhundert, der Abtprimas Emeritus soll wissen, welch schwierige Aufgabe er übernommen hat, Menschen zu führen und den Eigenarten vieler zu dienen. Auch ein Unternehmen hat es nicht einfach mit „Humankapital“ zu tun, sondern mit Menschen, die sehr unterschiedlich sind und auf deren Bedürfnisse und Qualitäten eingegangen werden sollte. Jeder ist ein Teil des Ganzen und sollte gehört werden.

Benedikt schreibt dazu direkt im Anschluss an das Kapitel über den Abtprimas Emeritus: Bei allen wichtigen Fragen soll der Abtprimas Emeritus die ganze Gemeinschaft zusammenrufen und sich mit ihnen beraten. Und Benedikt hat bewusst „alle“ geschrieben, weil Gott oft den Jüngeren eingibt, welcher Weg der bessere ist.

Doch wenn wir uns in Unternehmen umschauen, stellt sich die Frage, wer will hier überhaupt Beratung und wer hat den Mut, seine Meinung auch gegen Widerstände zu vertreten. Immer wieder hört man von Führungskräften, ‚“ich mache das allein“, oder „ich weiß es besser“. Und dann wundern wir uns zur gleichen Zeit, wenn Unternehmen scheitern. Wer Rat annehmen kann, ist souverän, kritikfähig und vertraut in andere Menschen. Leider fließt noch immer viel Kraft in Grabenkämpfe und Kompetenzgerangel.

Eine Gesellschaft braucht, ebenso wie ein Unternehmen, Menschen mit Zivilcourage. Im Mittelalter waren viele Fürsten souverän genug, sich einen Hofnarren zu halten, der die Aufgabe hatte, die Wahrheit zu sagen und ihnen den Spiegel vorzuhalten, ohne dafür bestraft zu werden. Das täte manchem Unternehmenschef heutzutage auch gut.

Die Digitalisierung schreitet voran. Brauchen wir neue Werte in unserer neuen digitalen Welt, die gerade mit einer unglaublichen Schnelligkeit unser aller Leben verändert?
Die Digitalisierung erleichtert uns auf der einen Seite das Leben. Doch auf der anderen Seite erhöht diese Flut an Informationen, die in unglaublicher Schnelligkeit überall auf dem Globus zur Verfügung stehen, auch den Druck auf jeden einzelnen.

Ich habe nur ein Smartphone und selbst hier werde ich mit Informationen überhäuft. Das Entscheidende ist auch hier wieder die Einfachheit.

Wir müssen souverän entscheiden, was wir an Informationen brauchen und was nicht. Die Digitalisierung sollte uns das Leben vor allem erleichtern, und es nicht noch komplizierter machen. Als Nutzer sollte ich die Medien beherrschen und nicht umgekehrt. Das gilt vor allem für Kinder, denen der Umgang mit den neuen Medien verantwortungsbewusst nahegebracht werden sollte.
Und eines sollten wir nie aus den Augen verlieren: Keine Technik der Welt kann den menschlichen Austausch ersetzen.

Werteerziehung gehört zu den großen Herausforderungen unserer Zeit. Mit welchen Wertvorstellungen gehen junge Menschen heute ins Leben und sind diese Wertvorstellungen zukunftsfähig?
Kinder brauchen Menschen, die sich Zeit für sie nehmen, eine gute Familie, in der sie sich geborgen fühlen und Vorbilder, die Werte nicht nur proklamieren, sondern auch leben. Das ist die Grundlage. Ich halte es zudem für sehr wichtig, sich für die Fragen der Kinder Zeit zu nehmen und mit ihnen zu diskutieren, ohne bereits fertige Antworten parat zu haben. Die Zeit geht weiter und wir Älteren sollten so offen sein, auch andere Meinungen zu akzeptieren.

Neben der Familie sollten in den Schulen Werte plausibilisiert werden. Für mich bedeutet Schule nicht nur Wissens- sondern auch Wertevermittlung. Doch gerade in Anbetracht der in vielen Bundesländern verkürzten Schulzeit liegt der Fokus leider oft klar auf der Wissensvermittlung.

Gerade Ethik, Philosophie oder Religion gelten in Deutschland eher als „Nebenfächer“. Das ist schade, denn allein ein Blick auf die griechischen Philosophen zeigt, dass hier bereits die grundmenschlichen Probleme exemplarisch behandelt wurden. Es ist wichtig, junge Menschen an diese Klassiker heranzuführen. Mit Naturwissenschaften alleine kommen wir nicht auf ein Bildungsniveau, das wirklich alle Lebensbereiche abdeckt und jungen Menschen nachher im Berufsalltag ein gutes Fundament bietet. Herzensbildung und Wissensbildung sollten Hand in Hand gehen, sonst haben wir nachher genau die seelischen Krüppel, die schlecht mit anderen umgehen und dadurch großen Schaden anrichten.

Besonders wichtig ist mir, dass Menschen jeden Alters sich immer wieder bewusst machen, dass Selbstlosigkeit kein Verlust ist. Im Evangelium heißt es: Wer sich sucht, wird sich verlieren. Wer sich um meinetwillen verliert, wird das Hundertfältige bekommen, also seine Seele gewinnen. Das ist natürlich auf den ersten Blick ein Paradoxon: Je mehr ich hergebe, desto mehr gewinne ich. Aber genauso ist es. Oft spreche ich mit Bürgermeistern, die in der Regel noch einen engeren Kontakt zu den Bürgern haben. Dann höre ich immer wieder, man muss die Menschen mögen, dann mögen sie einen auch. Mir geht es genauso. Wahre Menschenliebe öffnet einem viele Herzen. Wenn wir das der jungen Generation vermitteln können, sind wir schon einen großen Schritt weiter.

Korruption, Ränkeschmiede, Vetternwirtschaft: ein Blick auf die globalisierte Welt stärkt nicht gerade das Vertrauen in funktionierende Wertesysteme. Wie können wir in unserer alles andere als perfekten Welt Werte erfolgreich leben?
Korruption und Betrug schaden einer Wirtschaft und leider ist das auch hierzulande ein Thema. Wahrscheinlich macht die Gelegenheit zum Dieb, wie man so schön sagt. Dennoch ist das eine Entwicklung nach unten, die niemand von uns gutheißen kann.

Früher kam das Topmanagement oft aus Familienunternehmen. Die Chefs dieser Häuser wurden als eine Art Überväter erlebt, die jedoch nicht nur die Zahlen, sondern auch das Wohl ihrer Mitarbeiter und die Entwicklung der Region im Auge hatten.

Heute hat die Bevölkerung das Vertrauen in die Wirtschaftsführer bis zu einem gewissen Grade verloren, weil in den oberen Etagen eben gelogen und betrogen wird. Und was das Schlimmste ist, selbst wenn sie schwerwiegende Fehler machen, kassieren sie noch Millionen. Das hat nichts mit Verantwortung und Gerechtigkeit zu tun.

Egoismus bringt die Gesellschaft nicht voran. Wir leben in einer Zeit, in der alles dem Individuum untergeordnet wird. Doch auch das scheint eine Sackgasse zu sein. Xi Jinping, Staatspräsident der Volksrepublik China, setzt auf Staatslenkung und absolute Kontrolle, weil aus seiner Sicht das westliche Modell versagt hat.

Sicherlich kommt diese Entwicklung auch zum Teil von der negativen Erfahrung im Umgang mit unserer freiheitlichen Demokratie. Missbrauch von Freiheit hat zu Mistrauen geführt. Doch sich einem menschenverachtenden System zuzuwenden, ist auch keine Lösung. Wir müssen an der Freiheit festhalten und den Menschen zur Eigenverantwortung erziehen. Freiheit heißt eben nicht, dass ich tun und lassen kann, was ich will, sondern Freiheit braucht Orientierung. Ich vergleiche die Freiheit gerne mit Wasser auf freier Ebene. Es muss gefasst werden, wie bei einer Quelle oder einem Fluss, sonst entwickelt es zerstörerische Kräfte. Platon hat die Freiheit und unsere Emotionen mit schäumenden Rössern verglichen. Wir brauchen sie, sonst würde der Karren sich nicht in Bewegung setzen. Aber es braucht den Verstand, also den Wagenlenker, der die Rosse in die richtige Richtung lenkt.

Im übertragenen Sinne gilt das auch für Unternehmenslenker. Ein Unternehmer braucht ständige Selbstreflexion und Selbstbeherrschung. Es besteht immer die Gefahr, dass wir über einen längeren Zeitraum hinweg bequem werden und dann lassen wir alles laufen. Der Psychologe Alexander Mitscherlich (1908 – 1982) hat dies als die tägliche Ich-Anstrengung bezeichnet, die ein Mensch braucht, um sich zu verwirklichen.

Welche Persönlichkeit des öffentlichen Lebens hat für Sie wirklich Vorbildfunktion und wenn ja, warum?
Hier möchte ich den ersten Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland nennen, Konrad Adenauer. Er hat mir mit seiner Souveränität sehr gut gefallen. Man denke nur an den Spruch: „Nehmen sie die Leute so wie sie sind, es gibt keine anderen.“ Dieser Realismus hat mich immer beeindruckt.

Eine weitere Persönlichkeit, die ich hier nennen möchte, ist Papst Franziskus. Er hat einen Paradigmenwechsel in der katholischen Kirche vollzogen und fordert absolute Ehrlichkeit. Papst Franziskus orientiert sich zudem ausschließlich am Evangelium, also am Wort und der Botschaft des barmherzigen Gottes. Damit eckt er bei vielen an.

Menschen, die so für ihre Überzeugung eintreten, verdienen unseren Respekt. In unserem Kloster gab es einmal einen Prior, also den zweiten Mann nach dem Abtprimas Emeritus, der zugleich mein Mentor war. Dieser Prior war nicht aus der Ruhe zu bringen. Als ich ihn mit Anfang 80 aus seinem Amt befreite, habe ich ihn gefragt, wie er es ausgehalten hat, immer der zweite Mann zu sein. Er antwortete: „Ach, ich habe immer die anderen und nie mich selbst geärgert, das erhält gesünder.“ Viele haben diesen Ausspruch als unchristlich fehlinterpretiert und nicht verstanden, welche Gelassenheit dahintersteckt.

Ein weiterer wichtiger Satz von ihm war: „Nehmen sie nichts ernst in diesem Leben, vor allem sich selber nicht.“ Doch das können die wenigsten, weil sie so mit sich beschäftigt sind und immer gut dastehen möchten. Der schönste Humor ist doch der, bei dem man über sich selbst lachen kann. Das sollten wir nie aus den Augen verlieren. Dann besinnen wir uns vielleicht auch wieder öfter auf die Werte, auf die es im Leben ankommt und rennen keinen falschen Idealen hinterher.

 

Dieses Interview führte die Journalistin Christiane Harriehausen.