Interviews

Hellmut Stöhr, Jahrgang 1946, Dipl. Kfm.
Nach dem Studium Marketing Trainee bei Knorr/Maizena, anschließend 20 Jahre bei Campbell Soup, verantwortlicher Geschäftsführer für die deutschen Firmen Lacroix und Beeck Feinkost.
Danach Geschäftsführer bei der LSG, Lufthansa Service sowie Bonduelle Frische, Deutschland.
Viele Jahre im Vorstand der Feinkostindustrie und im Vorstand der Fischindustrie.
Parallel dazu ehrenamtlich im Aufsichtsrat Greenpeace, Deutschland, und bei Slow Food.
Seit der Pensionierung Dozent an der Hochschule Nürtingen und zeitweise international aktiv in Entwicklungshilfe.

Interview:

Welche Werte haben für Sie besondere Bedeutung und warum?
Aufgrund meiner langjährigen beruflichen Erfahrung haben sich ein paar Werte herauskristallisiert, die für mich auch privat weiterhin große Bedeutung haben. In den Unternehmen, in denen ich tätig war, habe ich mich immer als eine Art Dirigent gefühlt. Gemeinsam mit den Profis um mich herum habe ich versucht, im übertragenen Sinne die Harmonie des Tones zu erreichen und den Gesamterfolg des Orchesters zu maximieren. Wie man „Musik macht“, wussten sie ja schon.

Daher war für mich die Innovation ein zentraler Aspekt. Ich komme aus der Lebensmittelindustrie und es war mir wichtig, dass wir jeden Tag die Qualität der Produkte auf den Prüfstand gestellt haben. Frei nach dem Motto, jeden Tag ein bisschen besser. Heute wird leider viel Mittelmäßiges produziert, was ich nicht nachvollziehen kann.

Zudem ist es sehr wichtig, in jeglicher Beziehung Vorbild zu sein. Hier darf niemand zwischen beruflichem und privatem Umfeld unterscheiden, denn es nützt nichts, wenn ich mich beruflich vorbildlich verhalte und mich privat daneben benehme.

Sehr wichtig ist es zudem, Individualität zuzulassen. Es ist langweilig, sich immer im Gleichklang mit anderen zu befinden. Ich möchte, dass man mich und meine Strategie erkennt. Bei meinem Nachnamen war das dann immer der sogenannte „Stöhr-Faktor“, den ich von meinen Mitarbeitern eingefordert habe. Dazu gehört ein offener Dialog. Ich wollte ehrliche Meinungen. Daher habe ich zum Beispiel bei Degustationen darauf geachtet, als letzter das Produkt zu probieren und vorher die Meinungen meiner Mitarbeiter zu hören.

All diese Werte habe ich immer mit dem Begriff der Nachhaltigkeit verbunden, was mir noch heute sehr wichtig ist. Leider wird das Wort „Nachhaltigkeit“ zu oft gebraucht und auch missbraucht. Wir können eigentlich nicht von Nachhaltigkeit reden, wenn wir so handeln, als ob uns drei Globen zur Verfügung ständen, obwohl wir doch nur einen haben. Wir erstreben zwar ökonomische, ökologische und soziale Nachhaltigkeit, sind aber weit davon entfernt.

Dennoch müssen wir dafür kämpfen. Ich habe es geschafft, während meiner Berufszeit viele Jahre als einziger Unternehmer im Aufsichtsrat von Greenpeace Deutschland zu sein. Das war ein spannender Spagat. Aber gerade diese Verbindung von Ökonomie und Ökologie ist wichtig.

Mit welchen Werten kann ein Unternehmen langfristig erfolgreich am Markt agieren? Bringt Wertschätzung auch Wertschöpfung?
Unternehmen, die nach Gutsherrenart regiert werden, gehören immer mehr der Vergangenheit an. Allerdings gibt es noch immer Unternehmer, die Diskussionen über Werte in Unternehmen mit einem Lächeln betrachten und nicht ganz ernst nehmen.

Doch gute Kräfte können sich die Arbeitsplätze heute aussuchen und daher spielt die Personalführung eine wichtige Rolle. Unternehmen, die ihren Mitarbeitern Wertschätzung entgegenbringen, haben da einen ganz klaren Wettbewerbsvorteil. Wertschätzung bedeutet also eindeutig Wertschöpfung.

Dem entgegen steht, dass es heute immer noch viele Mitarbeiter mit Zeitverträgen gibt. Das zeugt weder von Wertschätzung noch führt es dazu, dass sich Mitarbeiter wirklich mit einem Unternehmen identifizieren. Zuverlässigkeit und Zeitverträge sind aus meiner Sicht einfach ein Widerspruch.

Die Digitalisierung schreitet voran. Brauchen wir neue Werte in unserer neuen digitalen Welt, die gerade mit einer unglaublichen Schnelligkeit unser aller Leben verändert?
Bei dieser Frage möchte auf die Aussagen des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier bei einer Veranstaltung des DGB vor einiger Zeit zurückgreifen, der eine neue Ethik der Digitalisierung forderte. Die Digitalisierung verändert unsere Arbeitswelt dramatisch, daher ist es unsere Aufgabe, diese neue Arbeitswelt entsprechend zu gestalten. Hier sind noch viele Fragen offen. Es kann nicht sein, dass digitale Plattformen Urlaub, Krankheit oder Rentenkasse nicht anerkennen. Hier sollte die digitale mit der realen Arbeitswelt erst einmal in Einklang gebracht werden.

Die Politik sollte gemeinsam mit den Arbeitgeberverbänden und den Gewerkschaften aktiv werden. Wir brauchen Strategien. Arbeitnehmer brauchen Perspektiven, wenn in wenigen Jahren 30 bis 50 Prozent der Arbeitsplätze aufgrund der fortschreitenden Technisierung wegfallen könnten.

Wir haben heute schon das Problem, dass durch die Scheinarbeitswelt der Zeitverträge viele Menschen so wenig verdienen, dass sie irgendwann in Altersarmut geraten werden. Und wenn dann durch die Digitalisierung auch noch viele Jobs wegfallen, haben wir einen sozialen Bruch, der kaum zu überbrücken ist. Auf der einen Seite blicken wir mit Stolz auf unser reiches Land, auf der anderen Seite laufen wir in eine problematische Entwicklung hinein.

Das Thema der Grundsicherung sollte daher aus meiner Sicht viel intensiver diskutiert werden. Ein solches Auffangnetz wäre wichtig.

Werteerziehung gehört zu den großen Herausforderungen unserer Zeit. Mit welchen Wertvorstellungen gehen junge Menschen heute ins Leben und sind diese Wertvorstellungen zukunftsfähig?
Wir sind ein Land das Köpfe und keine Hände braucht. Doch von einer werteorientierten Erziehung, die Eigenverantwortung und kritisches Denken fördert, sind wir derzeit weit entfernt. Ich bin Diplomkaufmann und habe die Hauptfächer Marketing und Arbeitswissenschaft / Personalwesen studiert. Das ist inzwischen ein paar Jahrzehnte her, aber schon damals standen ethische Werte zumindest bei der Lehre im Vordergrund. Leider sieht die Realität in vielen Unternehmen ganz anders aus. Leute werden gemoppt, es wird gelogen und betrogen und viele Arbeitnehmer werden alles andere als wertgeschätzt. Die große Frage ist, wie sich das ändern lässt.

Ich schaue in diesem Zusammenhang gerne auf den Fußball und bin immer wieder erstaunt, was unterschiedliche Trainer mit ein und derselben Mannschaft erreichen können. Wichtig ist es sicherlich, den Druck rauszunehmen, zu loben und vielleicht auch einmal unkonventionelle Wege zu beschreiten, wie etwa der Trainer von Hoffenheim, der als Diskjockey für seine Spieler beim Training Musik aufgelegt hat. Das lässt sich auch auf die Wirtschaft übertragen. Menschen, die innerlich frei sind, sind in der Regel auch erfolgreicher.

Vermittelt werden Werte im Elternhaus, in der Schule und in der Ausbildung. Ich selbst lehre an der Hochschule und erlebe dort zumindest in einem kleinen Ausschnitt, wie sich junge Menschen verhalten. Ich beobachte bei den Studenten vor allem Politikverdrossenheit und eine Angepasstheit, die ich als Alt-68er nicht erlebt habe. Viele suchen die einfachen Wege, um schnell durchzukommen und dann eben das Leben zu leben.

Wenn ich auf die Weltpolitik schaue, die so viele Herausforderungen bereithält, brauchen wir eine aktivere und kritischere Generation, die sich viel stärker in das Geschehen einbringt.

Zugleich muss ich mich fragen, ob wir bei der Erziehung etwas falsch gemacht haben, wenn Schüler ihre Lehrer verprügeln, Polizisten von Passanten bespuckt oder Ersthelfer vom Roten Kreuz bei einem Einsatz attackiert werden. Vielleicht haben wir uns zu kumpelhaft mit den nächsten Generationen verhalten und den jungen Menschen zu wenig Respekt beigebracht.

Werte, die für uns und unsere Gesellschaft wichtig sind, haben wir den jüngeren Generationen scheinbar nicht richtig vermittelt, denn sonst würde es doch nicht gehäuft zu solchen gesellschaftlichen Aussetzern kommen. Die Frage ist, wie wir da herauskommen. Ich vermute, eine Korrektur funktioniert nur mit harter Hand und Konsequenz. Winfried Kretschmann (B90/Grüne), der Ministerpräsident von Baden-Württemberg, will in einigen Jahren Werteunterricht einführen, was aus meiner Sicht überfällig ist.

Es ist ein Armutszeugnis für eine Gesellschaft, wenn sie durch verstärkten Polizeieinsatz die Fehlentwicklungen in den Griff kriegen muss, die sie durch Fehleinschätzung und Tatenlosigkeit selbst verursacht hat.

Wenn wir wirklich gegensteuern wollen, müssen wir das, was wir fordern, vor allem vorleben. Ein gutes Vorbild ist der beste Lehrmeister. Ein banales Beispiel: Früher hat die Essenszeit die Arbeitszeit definiert, heute definiert die Arbeitszeit die Essenszeit. Jeder isst irgendwann und ein gemeinsames Familienessen findet nicht mehr in allen Familien statt. Das sieht man nicht zuletzt an den immer öfter fehlenden Tischsitten der Kinder.

Diese Entwicklung wirft nicht zuletzt die Frage auf, wann ich überhaupt Einflussmöglichkeiten habe, um meine Werte zu vermitteln. Ich bin bei „Slow Food“ engagiert. Mit dieser Initiative versuchen wir, den Wert von gemeinsamer „Essenszeit“ im Sinne einer in Gemeinschaft verbrachten Zeit wieder in den Vordergrund zu rücken. Das ist in einer Zeit, in der alle mit „handheld food“ durch die Straßen gehen, nicht so leicht. Menschen brauchen Grenzen. Das sollten wir auch in einer liberalen Gesellschaft nicht aus den Augen verlieren.

Korruption, Ränkeschmiede, Vetternwirtschaft: ein Blick auf die globalisierte Welt stärkt nicht gerade das Vertrauen in funktionierende Wertesysteme. Wie können wir in unserer alles andere als perfekten Welt Werte erfolgreich leben?
In Zeiten des VW-Abgasskandals ist das Vertrauen in die Werte und in die Führungspersönlichkeiten großer Unternehmen erschüttert. Es gibt eine aktuelle Studie von Ernst & Young, derzufolge rund 18 Prozent der befragten deutschen Firmen in den vergangenen beiden Jahren von Korruption und Betrugsfällen betroffen waren. Nun kann man sagen, dass wir mit dieser Zahl im internationalen Vergleich noch ganz gut dastehen. Aber vor zwei Jahren lag die Prozentzahl noch bei 14 Prozent. Das sollte uns zu denken geben.

Eine Befragung in der jungen Generation hat zudem gezeigt, dass junge Menschen heute viel eher bereit sind, Falschaussagen gegen Bezahlung zu machen als die älteren. Also scheint es auch hier wieder einen Zusammenhang zwischen Wertevermittlung und der derzeitigen Situation in unserer Gesellschaft zu geben. Doch wie soll man Werte vermitteln, wenn führende Unternehmen etwas anderes vorleben? Es ist ein herber Rückschlag für unser Land, dass Führungskräfte betrügen und lügen. Das hat nicht nur national, sondern auch international Auswirkungen.

Nur mit ganz strengen Regeln können wir dem entgegenwirken und zum Glück hat die Diskussion um Compliance uns schon ein Stück weit die Augen geöffnet. Deutschland ist kein Land für Korruption und Betrug und sollte es auch nie werden.

Welche Persönlichkeit des öffentlichen Lebens, hat für Sie wirklich Vorbildfunktion und wenn ja, warum?
Hier möchte ich die evangelisch-lutherische Theologin Margot Käßmann nennen. Was sie sagt und veröffentlicht kann ich nur abnicken, ob es sich um die Forderung nach Gewaltfreiheit handelt, Fremdenfeindlichkeit, Kinderarmut oder die Gleichstellung von Mann und Frau. Sie hat für mich als Person absolut Vorbildcharakter.

Doch auch eine Institution möchte ich in diesem Zusammenhang nennen: Greenpeace. Hier setzen sich viele Menschen erfolgreich für wichtige Zukunftsziele ein, sei es, dass es um Umweltfragen oder Gewaltfreiheit geht.

In dieser Organisation engagieren sich unter anderem herausragende Wissenschaftler, die bereit sind, mit einem vergleichsweise geringen Etat Großes zu leisten und sich für eine bessere Welt einzusetzen. Das ist wirklich vorbildhaft und man muss sich fragen, ob man selber dazu bereit wäre.

Die Arbeit von Greenpeace verdient aus meiner Sicht jegliche Unterstützung. Menschen, die sich hier einbringen, sind wichtige Vorbilder und Zukunftsgestalter.

 

Dieses Interview führte die Journalistin Christiane Harriehausen.