Kirsten Harms studierte an der Universität Hamburg Musikwissenschaften und Musiktheater-Regie an der dortigen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst.
Als eine der ersten jungen Regisseurinnen in Deutschland gelang ihr Ende der 80er Jahre der Durchbruch als Opernregisseurin. 1995 wurde sie Intendantin der Kieler Oper, die unter ihrer Leitung von 1995 -2003 zu einem der erfolgreichsten mittleren Opernhäusern des deutschsprachigen Raums wurde.
2003 debütierte Kirsten Harms als Regisseurin an der Deutschen Oper Berlin. 2004 übernahm sie als Intendantin die Leitung des Hauses. Damit wurde Kirsten Harms als erste Frau weltweit Intendantin eines der ganz großen Opernhäuser. Insbesondere die Wiederentdeckung großer Opern von verfemten und verfolgten Komponisten wurde ihr Markenzeichen.
Das Publikum reagierte mit einer Auslastungssteigerung von 22 % und der Deutschen Oper gelang eine Verdoppelung ihrer Einnahmen. Kirsten Harms arbeitete weiterhin als Regisseurin in Frankreich, Italien und Schweden.
Seit 2016 ist sie Vize-Präsidentin der IWF Deutschland.
Welche Werte haben für Sie besondere Bedeutung und warum?
Unseren Wertekanon gibt es seit tausenden von Jahren, und jeder Wert ist aus meiner Sicht wichtig. Allerdings wird uns die Bedeutung der Werte oft erst richtig bewusst, wenn es uns daran mangelt. Gerade in Umbruchzeiten ist das verstärkt zu beobachten. So begünstigt die Anonymität des Netzes zum Beispiel verbale Gemeinheiten.
Vor diesem Hintergrund möchte ich vor allem die Wertschätzung hervorheben. Wertschätzung und Liebe sind zwei sehr kreative und beglückende Wirkmächte. Geringschätzung dagegen führt meistens zu Destruktivität. Das sollte man nie vergessen, auch wenn dabei das eigene Gefühl der Überlegenheit verlockend zu sein scheint. Geringschätzung in Auseinandersetzungen ist nicht nur eine Meinung, sondern sie ist in Wahrheit ein Angriff auf das Selbstwertgefühl des Gegenübers. Und das erlebt das Gegenüber als Kränkung und reagiert mit Ohnmachtsgefühlen. Nur, bei nächster Gelegenheit wird er oder sie zum Gegenschlag ausholen. So kränken wir uns gegenseitig und nehmen in Kauf, dass wir uns und unsere Gesellschaft damit schädigen.
Mit welchen Werten kann ein Unternehmen langfristig erfolgreich am Markt agieren? Bringt Wertschätzung auch Wertschöpfung?
Menschliches Miteinander wird durch Wertschätzung immer befördert, auch weil Interessen besser ausgehandelt werden können. Das trägt zur Wertschöpfung bei. Die Frage ist nur, was passiert, wenn maximaler Profit eher dann realisierbar zu sein scheint, wenn man ideelle Wertschöpfung missachtet? Nun habe ich selbst kein Wirtschaftsunternehmen geführt, und kann daher wenig zu solchen Marktmechanismen sagen. Allerdings war ich lange Intendantin von zwei Opernhäusern, und das zu einer Zeit, in der Kunst zu überflüssigem Luxus erklärt wurde, den man immer weniger finanzieren wollte. Insofern war ich unentwegt mit der Auflage zu großen Einsparungen konfrontiert. Die Politik hatte da ein Patentrezept: Reduzieren Sie Ihre Ausgaben, das heißt in unserem Fall die Gagen oder die Anzahl der Künstler, und mehren Sie Ihre Einnahmen durch ein gefälliges Programm.
Als ich im Jahr 2004 an die Deutsche Oper Berlin kam, hatte ich als Regisseurin und Intendantin bereits genügend Erfahrung, um zu wissen, dass in der Kunst Mogelpackungen nicht funktionieren. Aber um es vorwegzunehmen, es ist uns tatsächlich gelungen, die Publikumsauslastung so zu steigern, dass wir unsere Einnahmen verdoppeln konnten.
Nur das mit einem ganz anderen Credo: Alles, was wir auf die Bühne bringen, soll wertschöpfend und sinnstiftend sein. Jeder Opernabend soll dem Zuschauer etwas geben, was er in seinem Alltag oft schwer findet: Inspiration und Erkenntnis. Wir Künstler wollten Positionen beziehen, die die Menschen bewegten. Die Werbung erzählt auch schöne Geschichten, aber nicht, um die Wahrheit zu sagen. Sie bewegt auch Menschen, aber vor allem zum Konsum. Es ging uns immer um mehr, als das Publikum durch geschicktes Marketing in gefällige Vorführungen zu locken. Es ging um den besonderen Blick, eine Analyse der Gesellschaft, die nicht durch Macht- und Profitinteressen korrumpiert ist. Solche anderen Perspektiven zu bebildern und zu beschreiben, ist eine wichtige Funktion, die Künstler in unserer Gesellschaft innehaben sollten. Das gleiche gilt für Journalisten und Wissenschaftler.
Bei der Gestaltung des Programms haben wir alles darangesetzt, auch die Fachleute zu begeistern. Das sind die Opernkenner, die Fans, andere Künstler und die Fachpresse, kurz alle, die den Kunstmarkt beobachten und etwas davon verstehen. Unter ihnen findet man starke Meinungsführer, die dann zu den Zugpferden für ein immer größer werdendes Publikum wurden. Ich glaube daher an den inhaltlichen Anspruch und an die Qualität. Das ist etwas, was das Marketing kommuniziert, aber nicht ersetzen kann.
Die Digitalisierung schreitet voran. Brauchen wir neue Werte in unserer neuen digitalen Welt, die gerade mit einer unglaublichen Schnelligkeit unser aller Leben verändert?
Die überlieferten Werte bleiben auch in Zeiten der Digitalisierung gültig. Allerdings gibt es Zeiten, in denen bestimmte Werte mehr in den Vordergrund treten als andere. Ich bezweifle, dass es nur das Hochhalten von Werten ist, das Erfolg verspricht. Aus Sicht der Regisseurin kann ich sagen, dass man nur dann künstlerisch überlebt, wenn man etwas Neues und für die Gesellschaft Relevantes wagt. Wir müssen uns immer wieder um die echte Innovation bemühen. Das kostet durchaus Kraft und erfordert Mut, denn es ist ja auch immer mit einem großen Risiko verbunden. Paradoxerweise war es so, dass gerade die Planungen zu den größten Erfolgen wurden, die am Anfang am meisten umstritten waren. Da darf man sich nicht beirren lassen. Wir alle sind viel zu oft versucht, an Bewährtem festzuhalten und alte Erfolgsmodelle zu wiederholen. Aber das gelingt in der Regel nicht, weil der Mensch und sein Blick auf die Welt sich so schnell verändern. Das hat sich zum Beispiel bei Nokia gezeigt. Das Unternehmen ist innerhalb weniger Jahre vom Markt verschwunden, weil es den Trend zum Smartphone nicht richtig antizipiert hatte. Gabriele Riedmann de Trinidad, Expertin für Geschäftsfeldinnovationen und IT-Lösungen, vertritt ebenfalls die Meinung, dass nur Innovation in die Zukunft weist. Innovationen erhalte ich durch Kreativität, und diese braucht Wertschätzung. Denn in einem kreativen Prozess geht es darum, zunächst alle Ideen zuzulassen, auch die scheinbar verrücktesten. Wie oft entwickelt sich erst aus einem abwegigen Gedanken die neue zündende Idee.
Selbst Fehler und Irrtümer sollte man zu schätzen lernen, denn dadurch muss man sich zwangsläufig etwas Neues einfallen lassen. Der Irrtum ist Teil der Kreativität und so manches Mal eine Vorstufe der Innovation. Ich habe alles darangesetzt, die Kreativität meiner Mitarbeiter in einem Umfeld der Wertschätzung zu fördern und zu schützen. Mitarbeiter, die sich nicht irren dürfen, werden logischerweise nur noch das tun, was man von ihnen verlangt. Das bringt weder ein Opernhaus noch ein Unternehmen voran. Darauf kann man aus meiner Sicht gar nicht genug achten.
Werteerziehung gehört zu den großen Herausforderungen unserer Zeit. Mit welchen Wertvorstellungen gehen junge Menschen heute ins Leben und sind diese Wertvorstellungen zukunftsfähig?
Über „die Jugend“ zu sprechen ist schwierig. Dennoch beobachte ich, dass viele (junge) Menschen ein diffuses Gefühl des Ungenügens in sich tragen. Ich habe mich oft gefragt, woher das kommt. Es ist zumindest symptomatisch, dass der Fokus anderer oft auf den Defiziten liegt, ob in der Schule oder im Arbeitsleben. Es werden Schwächen attackiert und Stärken beneidet, statt sie positiv zu sehen und zu befördern. Auch in der Politik wäre ein Umdenken dringend notwendig. Ich finde es grauenvoll, wie manche Politiker sich gegenseitig diffamieren, abwerten und größtmögliche persönliche Kränkungen zufügen, oft ohne Belege, statt in einen Wettbewerb der besseren Ideen einzutreten. Wäre ich Journalist, ich würde mich weigern, derartige Wortgefechte zu zitieren und stattdessen nur noch das aufgreifen, was Sinn stiftet und den Diskurs voranbringt.
Spannend ist die Frage, wonach junge Menschen streben, denn das zeigt, was ihnen eigentlich fehlt. Sehr oft wünschen sich Jugendliche stabile Beziehungen, glückliche Familien und verlässliche Freundschaften. Doch das ist in unserer Gesellschaft nicht mehr so leicht zu finden.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die fehlende Anerkennung. Das zeigt sich nicht zuletzt an der oft exzessiven Selbstdarstellung junger Menschen im Netz. Beim Selfie wird das Glück vorgegaukelt und das Bild von dem Menschen geschönt. Es fehlt das Gefühl, sich selbst und anderen zu genügen. Geringschätzungen sind in unserer Gesellschaft weit verbreitet, Kränkungen und Abwertungen als Machtmittel anerkannt. Es ist dringend an der Zeit, über diese Mechanismen nachzudenken und sie zu korrigieren.
Es wäre einmal ein interessantes Experiment, eine Woche lang seinen Mitarbeitern nur noch das zu sagen, was man an ihnen gut findet und was man sich von ihnen wünscht, und alles andere für sich zu behalten.
Korruption, Ränkeschmiede, Vetternwirtschaft: ein Blick auf die globalisierte Welt stärkt nicht gerade das Vertrauen in funktionierende Wertesysteme. Wie können wir in unserer alles andere als perfekten Welt, Werte erfolgreich leben?
Korruption entsteht aus Gier. Einer der weisesten Sätze sagt dagegen „Geben ist seliger denn Nehmen“. Glücklicherweise haben etliche Menschen ihn auf ihre Fahnen geschrieben, und es ist beeindruckend, was sie damit bewirken. Ohne sie würde die Gesellschaft zusammenbrechen. Zurzeit beobachten wir, dass das Thema „Sharing“ immer wichtiger wird. Wir teilen dabei nicht nur Gegenstände, sondern auch Zeit oder Fähigkeiten. Das halte ich für einen guten Trend.
Menschen, die in der Lage sind, etwas zu geben, empfinden das oft als beglückend. Sie erhalten dafür etwas zurück, was ihnen wichtiger ist als Geld, weil es sie im Innersten berührt: Vertrauen, Anerkennung, Wertschätzung und Liebe.
Welche Persönlichkeit des öffentlichen Lebens, hat für Sie wirklich Vorbildfunktion und wenn ja, warum?
Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten. Es gibt viele vorbildhafte Menschen. Am meisten bewundere ich Menschen, die in uneigennützigen Hilfsorganisationen Großartiges leisten, wie zum Beispiel Ärzte ohne Grenzen.
Dieses Interview führte die Journalistin Christiane Harriehausen.