Interviews

Professor Dr. Emanuel V. Towfigh ist Dekan der Law School der EBS Universität für Wirtschaft und Recht in Wiesbaden und Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Empirische Rechtsforschung und Rechtsökonomik. Das Studium der Rechtswissenschaften absolvierte Towfigh in Münster und Nanjing, er wurde an der Universität Münster promoviert. Forschungsaufenthalte führten ihn an die New York University Law School und die University of Virginia Law School. Er habilitierte sich mit der verhaltensökonomisch argumentierenden, verfassungstheoretischen Arbeit „Das Parteien-Paradox. Ein Beitrag zur Bestimmung des Verhältnisses von Demokratie und Parteien“. Towfigh ist zudem Mitglied des Gesellschafterausschusses der Freudenberg & Co. KG und des Aufsichtsrats der Freudenberg SE.

Interview

Welche Werte haben für Sie besondere Bedeutung und warum?
Eine schwierige Frage, weil Werte oft kontextabhängig sind. Auf einer übergeordneten Ebene sind für mich Vertrauenswürdigkeit und Gerechtigkeit grundlegende Werte, die für ein gedeihliches Zusammenleben von Menschen unerlässlich sind.

Gerechtigkeit ist die Grundlage für Einigkeit und Ordnung und damit für Frieden in einer Gesellschaft. Und ohne Vertrauen können Menschen nicht miteinander interagieren.

Wichtig sind mir daneben auch Freiheit und Gleichheit, wobei es sich dabei nicht unbedingt um Werte im klassischen Sinne handelt. Damit sich Menschen entfalten, müssen sie ihre Freiheit leben können. Die Anerkennung der fundamentalen Gleichheit aller Menschen ist aus meiner Sicht unabdingbar.

Mit welchen Werten kann ein Unternehmen langfristig erfolgreich am Markt agieren? Bringt Wertschätzung auch Wertschöpfung?
Wertschätzung bringt eindeutig auch Wertschöpfung. Gleichheit zu leben, ist für mich die Grundlage der Wertschätzung. Hierarchien und Rollenbeschreibungen werden viel zu oft mit der Vorstellung vermengt, die ich mir von einem Menschen mache. Wir sollten uns der Tatsache bewusst sein, dass jeder in einem Unternehmen eine Aufgabe hat und dass alle diese Aufgaben gleichermaßen wichtig sind.  Jeder Mitarbeiter trägt auf seine Weise zum Erfolg eines Unternehmens bei. Das dürfen wir nicht aus den Augen verlieren. Wertschätzung in einem Unternehmen fördert zudem die Freiheit, so dass Menschen ihr Potential entfalten können.

All das zeigt, dass die Prägung einer werteorientierten Unternehmenskultur entscheidend für den wirtschaftlichen Erfolg ist. Selbstverständlich kann kein Unternehmen ohne vernünftige Arbeitsabläufe, also die sogenannten harten Faktoren, existieren, aber es kommt auf den Einklang zwischen beiden Seiten an.

Deshalb steht bei der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung auch die Führungsaufgabe so im Vordergrund. Die Hauptaufgabe von Wirtschaftslenkern und der politischen Führung ist es, diese wertschätzende Kultur zu prägen. Erfolgreiche Organisationen beherzigen das. Die Bedeutung einer werteorientierten Kultur kann also aus meiner Sicht nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Die Digitalisierung schreitet voran. Brauchen wir neue Werte in unserer neuen digitalen Welt, die gerade mit einer unglaublichen Schnelligkeit unser aller Leben verändert?
Fundamentale Werte sind nicht zeitgebunden. Sie sind und bleiben die Grundlage des menschlichen Miteinanders. Allerdings beobachte ich, dass aufgrund der Digitalisierung alltagsbezogene Werte wie Anpassungsfähigkeit und Flexibilität wieder an Bedeutung gewinnen. Wir leben in einer sich sehr schnell verändernden Welt, das hat Auswirkungen auf unser aller Leben.

Wichtiger als die Frage, ob wir neue Werte brauchen ist, dass wir unsere grundlegenden Werte bewahren. Dieser Herausforderung mussten sich Menschen schon immer stellen, und sie wird uns die kommenden Jahre stark beschäftigen. Unsere Demokratie steht derzeit vor zukunftsweisenden Fragen. Wir erleben einen Ruf nach sozialer Gerechtigkeit verbunden mit dem Verlust an Vertrauen in der Bevölkerung, der uns hellhörig machen sollte.

Hinzu kommen große Herausforderungen im Bildungssektor, die nicht zuletzt der Digitalisierung geschuldet sind und die wir bisher nicht in ausreichendem Maße aufgegriffen haben.

Jede große kulturelle Veränderung, zu der ich auch die Digitalisierung zählen möchte, führt zu dem Wunsch, Dinge zu regulieren, um sich damit besser zurecht zu finden. Das ist im Prinzip nichts Neues, auch wenn die Entwicklung heute deutlich schneller geht, als in vorangegangenen Epochen.

Wir haben neue Phänomene, wie „shitstorms“ oder „Trolle“ im Netz, aber letztlich sind auch diese nur Ausdruck ureigenster menschlicher Verhaltensweisen, die lediglich eine neue Plattform erhalten haben. Wir müssen dagegen angehen, aber dafür brauchen wir keine neuen Werte, ein respektvoller Umgang miteinander muss auch „online“ eine Selbstverständlichkeit sein.

Werteerziehung gehört zu den großen Herausforderungen unserer Zeit. Mit welchen Wertvorstellungen gehen junge Menschen heute ins Leben und sind diese Wertvorstellungen zukunftsfähig?
Als Dekan einer juristischen Fakultät und damit einer Bildungseinrichtung liegt mir dieses Thema natürlich besonders am Herzen. Oft denkt man bei Werteerziehung vor allem an Kindergarten und Schule, doch ich sehe darin einen lebenslangen Prozess. So hat sich auch meine Vorlesung „Grundrechte“ aufgrund der aktuellen politischen Situation verändert und ist mit Blick auf die Werteerziehung ein Stückweit kraftvoller geworden. Das Grundgesetz regelt die Grundlagen unseres gesellschaftlichen Miteinanders und es geht darum, unsere freiheitlich demokratische Grundordnung zu vermitteln. Ich beobachte, wie ich noch stärker für diese Werte eintrete. Das nimmt manchmal schon Züge einer Predigt an, weil ich vermitteln möchte, wie wichtig es ist, diese Grundordnung zu erhalten und sie nicht als selbstverständlich hinzunehmen.

Wir leben in einer wunderbaren Welt, in der wir eine freiheitlich demokratische Ordnung quasi „geschenkt“ bekommen haben. Doch wir dürfen nie vergessen, dass es in diesem Land auch andere Zeiten gegeben hat. Meine Generation hat die Nazi-Diktatur zum Glück nicht mehr erleben müssen. Umso wichtiger ist es, dass wir uns immer wieder bewusst machen, wie wichtig Werte und Grundrechte sind und dass wir uns dafür einsetzen sollten, diese auch zu bewahren. Die Fragen, warum es wichtig ist, kein zu großes soziales Gefälle zu haben, oder Freiheit und Sicherheit zu gewährleisten, sollten wir uns immer wieder stellen. Werteerziehung ist paradoxerweise deshalb so wichtig, weil wir in einer so guten Zeit leben.

Ich sehe derzeit aber keinen Werteverfall bei den jungen Leuten und glaube auch nicht, dass früher alles besser war. Für sehr wichtig erachte ich aber, dass wir uns immer wieder mit unseren Werten auseinandersetzen und auch darüber diskutieren. Leben heißt Veränderung und daher sollten wir bereit sein, gesellschaftliche Entwicklungen immer wieder auf den Prüfstand zu stellen und auch kritisch zu hinterfragen.

Zudem leben wir in einer globalisierten Welt. Wenn ich also an meine Vorlesung „Grundrechte“ denke, spielen europäische und internationale Regularien heute eine viel wichtigere Rolle als noch vor ein paar Jahren.  Das schärft den Blick dafür, dass es international unterschiedliche Wertvorstellungen gibt, die alle ihre Berechtigung haben. In jedem Fall sollte man ihnen nicht mit schroffer Ablehnung begegnen, sondern erkennen, dass eine stetige Neuverhandlung der Werte wichtig ist. Werteerziehung bedeutet für mich nicht, andere zu „erziehen“, sondern einen Modus zu finden, uns selbst laufend zu erziehen. Wir alle befinden uns auf einer „Lebensreise“ und die meisten von uns versuchen, sich an Werten zu orientieren. Wenn ich erwarte, dass andere meine individuellen Wertvorstellungen anerkennen und tolerieren, muss ich auch deren Wertvorstellungen anerkennen.  Jeder gibt auf seine Weise sein Bestes und es steht mir nicht zu, darüber zu urteilen.

Hinzu kommt, dass Wertevermittlung etwas höchst Praktisches ist. Angefangen  bei dem Verhalten junger Menschen auf dem Schulhof bis hin zum sportlichen Wettbewerb oder der Möglichkeit, seine Zivilcourage an der Bushaltstelle zu zeigen. Das sollten wir viel stärker in den Blick nehmen und uns in alltäglichen Situationen unseres werteorientierten Handelns bewusst sein.

Werte bringen nichts, wenn ich nur darüber spreche. Ich muss sie leben und ein Bewusstsein für ihre große Bedeutung entwickeln. Das zeigt sich auch immer wieder an der Kultur eines Unternehmens oder einer Fakultät, wie der, der ich vorstehen darf.

Korruption, Ränkeschmiede, Vetternwirtschaft: Ein Blick auf die globalisierte Welt stärkt nicht gerade das Vertrauen in funktionierende Wertesysteme. Wie können wir in unserer alles andere als perfekten Welt, Werte erfolgreich leben?
Ich bin überzeugter Optimist. Deshalb möchte ich erst einmal voranstellen, dass ich sehr glücklich bin, in der bisher besten Welt zu leben. Es gibt zwar auch in dieser Welt Korruption und Ränkeschmiede, das will ich nicht leugnen, aber wir sollten den Blick nicht immer nur auf die düsteren Seiten des Lebens lenken.

Natürlich ist mir bewusst, dass die zivilisatorische Kruste dünn ist. Das zeigt nicht zuletzt die Rückkehr der Autokraten in den vergangenen Jahren. Auch die Ereignisse des 11. September haben uns dramatisch vor Augen geführt, dass wir politisch und gesellschaftlich vor großen Herausforderungen stehen.

Aber zugleich haben viele Länder einen Schritt nach vorne getan, sei es im Hinblick auf die Kindersterblichkeit oder den Rückgang von kriegerischen Auseinandersetzungen.

Den so oft zitierten Werteverlust sehe ich in dieser Form nicht. Das heißt nicht, dass unsere Werte nicht in Gefahr sind. Wie in allen Epochen müssen die Menschen sich auch heutzutage anstrengen, um ihrer Werte zu bewahren. Aber die Aufgabe, die eigenen Werte immer wieder neu zu überdenken und sich damit auseinanderzusetzen, haben schon viele Generationen vor uns erlebt.

Für jeden ist es sehr schwierig, wertorientiert zu handeln, wenn andere das nicht tun. Wie oft sagen Menschen, dass sie in dieser Welt nur existieren können, wenn sie sich den schlechten Gepflogenheiten anpassen und selbst manipulieren oder Ränke schmieden. Diese Ansicht ist aus menschlicher Sicht verständlich. Aber unser Anspruch an uns selbst sollte sein, dem zu widerstehen. Ich bin überzeugt davon, dass es sich auf lange Sicht lohnt, integer zu handeln und sich von Werten wie Vertrauenswürdigkeit oder Gerechtigkeit leiten zu lassen. Dann bleibt kein Platz für Korruption und Ränke und man ist nicht angreifbar.

Das leitet über zu einem weiteren wichtigen Wert: Mut. Wir brauchen in unserer Gesellschaft Zivilcourage und Menschen, die sich gegen schlechtes Verhalten auflehnen. Der Grundsatz der Gleichheit und die Forderung nach Gerechtigkeit sollten unser Handeln leiten. Kultur ist nichts, über das wir nur reden, wir müssen sie leben und wenn jemand sich nicht an die Spielregeln hält, sollte man sich von ihm abwenden. In der Realität ist das schwer zu leben, aber der Spruch, „Ehrlich währt am längsten“ hat durchaus seine Berechtigung.

Welche Persönlichkeit des öffentlichen Lebens hat für Sie wirklich Vorbildfunktion und wenn ja, warum?
In meinem Leben spielen Vorbilder und Menschen, die mich inspirieren, eine große Rolle, auch wenn ich keinen einzelnen von ihnen hervorheben möchte. Niemand ist frei von Fehlern, und wir sollten uns davor hüten, andere zu idealisieren. Dennoch gibt es Menschen, die mit ihren Taten oder Fähigkeiten vorbildhaft sind.

Wenn meine Vorbilder noch leben, suche ich das Gespräch mit ihnen und sehe sie als eine Art Mentor. Ich frage mich dann vor allem, was hat jemanden dazu befähigt, so vorbildhaft zu handeln. Mein Ziel ist es also, diese Werte selbst zu verinnerlichen und dadurch auch ein Stück den Weg meines Vorbildes zu beschreiten.

Dabei kann es sich manchmal um wenig spektakuläre Fähigkeiten wie eine schöne Schrift handeln, aber auch einen achtsamen Umgang mit anderen oder den aufopferungsvollen Einsatz für einen Mitmenschen, bewundere ich sehr.

Wir sollten uns immer den freundlichen Blick für andere bewahren und anerkennen, dass wir alle auf einer Reise sind und jeder von uns sein Bestes gibt. Deshalb können sehr viele Menschen in allen möglichen Formen Vorbild für uns sein.

 

Dieses Interview führte die Journalistin Christiane Harriehausen.